Mehrere gelbe Baukräne und Züge am Hauptbahnhof Zürich. Im Hintergrund entstehen die Gebäude der Europaallee.

Die Europaallee in Zürich gilt als Symbol moderner Stadtentwicklung: barrierefrei, vernetzt und urban – aber für viele längst unbezahlbar. Hier zeigt sich, wie Aufwertung und Verdrängung oft Hand in Hand gehen. Bildnachweis: M M/Padmanaba01, Flickr, CC BY-SA 2.0, 1. November 2010

Gentrifizierung bringt oft sichtbare Verbesserung der Infrastruktur und des öffentlichen Raumes mit sich: neue und breitere Gehwege, Rampen an Gebäuden, Aufzüge in Bahnhöfen und digitale Infotafeln. Diese Massnahmen gelten oft als Meilensteine für eine inklusive Stadtentwicklung. Doch zeigt diese technische Aufwertung eine umfassende Inklusion und soziale Teilhabe? Der Widerspruch zwischen baulicher Barrierefreiheit und sozialer Exklusion wirft die Frage auf, wer tatsächlich von «inklusiver» Stadtentwicklung profitiert. 

Barrierefreiheit für wen?

Aufgewertete Quartiere bieten häufig neue, formal barrierefreie Angebote: Cafés mit Rampen, vegane Optionen, Speisekarten für Intoleranzen und Allergien oder nachhaltige Konzepte in Restaurants. Barrierefreie Wohnungen mit lärmdichten Fenstern und immer mehr barrierefreie ÖV-Haltestellen gehören ebenfalls dazu. Diese Massnahmen erleichtern einen technischen Zugang und klingen eigentlich doch ganz gut. 

Nur nützt eine Rampe wenig, wenn im Viertel keine bezahlbaren Pflegeinfrastrukturen existieren oder die ÖV-Haltestellen in der Nähe dieser jeweiligen Angebote noch immer nicht barrierefrei sind. Genauso wenig reicht es aus, wenn eine neue Unterführung mit Aufzug barrierefrei wird, aber nachts schlecht beleuchtet ist und somit für viele ein unsicherer und damit unzugänglicher Ort bleibt. 

Diese Beispiele verdeutlichen, dass Zugang nicht gleich Teilhabe ist. Denn die meisten dieser Angebote bleiben weiterhin unzugänglich, da sie sich meist an eine Kund:innenschaft mit höherem Einkommen richten und auch exklusiv von Einkommensstarken frequentiert werden. 

«Barrierefreiheit endet nicht an der Türschwelle, sondern mit der Frage, wer überhaupt eintreten kann.»

Louise Alberti, Reporterin ohne Barrieren

So ist durch den Wandel das neue Café zwar frisch saniert und barrierefrei, doch leider wird Kaffee für 8 Franken mit Aufpreis für pflanzliche Milch nun so teuer, dass es sich viele langjährige Bewohner:innen nicht mehr leisten können. Steigende Mieten und Preise machen diese neu gestalteten Räume für ehemals ansässigen Bewohner:innen, wie Rentner:innen, Alleinerziehende, Menschen mit geringem Einkommen, oft sozial und ökonomisch benachteiligten Gruppen unerreichbar. Somit endet Barrierefreiheit nicht an der Türschwelle, sondern mit der Frage, wer überhaupt eintreten kann. 

Aufwertung mit Ausschluss

Gentrifizierung ist ein Prozess, der häufig mit positiven Schlagworten beschrieben wird: «Aufwertung», «Stadterneuerung», «Nachhaltigkeit». Doch der Preis dafür ist hoch. Mit steigenden Mieten verschwinden jene, die die Stadt einst lebendig gemacht haben: Künstler:innen, Familien, ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen, prekär Beschäftigte. Besonders hart trifft es Gruppen mit eingeschränkter Mobilität oder geringem Einkommen. Sie werden aus ihren Quartieren verdrängt und das im Sinne der «inklusiven» Stadtentwicklung. 

Wer sich die Innenstadt nicht mehr leisten kann, zieht an den Stadtrand. Dort sind die (Arbeits-)Wege länger, die Anbindung schlechter, der Alltag beschwerlicher. Dabei nützt ein barrierefreier Bahnhof wenig, wenn der Bus nun nur noch einmal pro Stunde fährt oder die Lohnarbeit jetzt 15 Kilometer entfernt liegt. Mobilität ist mehr als Infrastruktur. Sie ist ein soziales Recht. Barrierefreiheit allein, ohne Miet- und Wohnungspolitik, bleibt unvollständig.

Politische Dimensionen der Aufwertung

Gentrifizierung ist nicht nur ein ökonomischer Prozess, sondern verändert auch kulturelle und politische Räume: neue Kund:innen, veränderte Nutzungsmuster und ein anderes Angebot an Kultur- und Konsummöglichkeiten. Diese Transformation kann marginalisierte Gruppen aus dem öffentlichen Leben verdrängen, auch wenn die Gebäude «zugänglich» sind. 

«Barrierefreiheit allein, ohne Miet- und Wohnungspolitik, bleibt unvollständig.»

Louise Alberti, Reporterin ohne Barrieren

Doch Räume sind nicht neutral oder passiv. Sie sind relational und veränderbar, sie erzählen Geschichten, setzen Grenzen und ermöglichen (oder verhindern) Teilhabe. Die bauliche Barrierefreiheit reicht nur dann aus, wenn die Räume auch sozial und kulturell so gestaltet werden, dass marginalisierte Gruppen sicht- und hörbar bleiben.

Kulturelle Inklusion fragt deshalb danach, wer in öffentlichen Räumen gesehen, gehört und berücksichtigt wird und ob lokale Identitäten und niedrigschwellige Treffpunkte erhalten bleiben. Inklusivität heisst demnach, sozioökonomische Teilhabe, Mobilität, Sicherheit und Identität im Quartier zu erhalten, nicht zu gefährden. 

Somit muss Inklusion nicht nur baulich, sondern auch emotional, sozial und kulturell gedacht werden. Leslie Kern, die Autorin des Buches « Gentrifizierung lässt sich nicht aufhalten und andere Lügen», fasst zusammen: «Zugang bedeutet nichts, wenn Räume Angst machen, überfordern oder die eigenen Lebensrealitäten ignorieren.»

«Echte Inklusion verbindet bauliche Zugänglichkeit mit sozialer Gerechtigkeit, partizipativer Planung und politischem Schutz vor Verdrängung.»

Louise Alberti, Reporterin ohne Barrieren

Eine Stadt für alle 

Inklusivität muss deshalb vielfältige Lebensrealitäten berücksichtigen: physische Barrierefreiheit ist nur ein Element von vielen; soziale Sicherheit, preisgünstige Angebote und gezielte Teilhabeprogramme sind ebenso nötig. Barrierefreiheit allein macht Städte nicht inklusiv. Sie ist notwendig, aber nicht hinreichend: echte Inklusion verbindet bauliche Zugänglichkeit mit sozialer Gerechtigkeit, partizipativer Planung und politischem Schutz vor Verdrängung. 

Ein modernes, inklusives Quartier könnte dementsprechend also so aussehen: barrierefreie Wege und Gebäude, aber zugleich geförderte Sozialwohnungen, bezahlbare Kinderbetreuung, partizipative Planung, Kulturflächen, niedrigschwellige Treffpunkte. So wird Technik nicht zum Vorwand für Exklusion, sondern Teil einer umfassenden sozialen Architektur und einem zugänglichen und inklusiven Lebensraum für alle.