Collage: ein Foto einer Hexe mit zerzausten Haaren und bösem Blick. Links von der Hexe ist eine illustrierte Energy-Drink-Dose, von welcher aus ein Schlauch zu einem Infusionsbeutel führt. Im Bild steht noch Blog Nummer 3.

[Anmerkung der Redaktion: Symbolbild – nicht Waltraude, auch nicht Silvia]

Als ich mitbekam, dass hinter meinem Rücken diese Aussage gefallen war – von Waltraude (Name frei erfunden, aber wunderbar klischeetauglich) – explodierte ich fast vor Wut. Zum Glück war ich so müde, dass ich meine Gedanken nicht in Worte fassen konnte.

Aber soll ich euch erzählen, was aus meinem Mund geschossen wäre, hätte ich nicht gerade einen Totalausfall in der Synapsenaktivität erlebt? Gern. Ich hätte ihr gesagt, dass sie eine Hexe sei – und zwar nicht die Art, die man zu Unrecht auf den Scheiterhaufen stellte. Nein. Eher die warzenüberzogene Hexe aus einem nicht kindgerechten Märchenbuch à la japanischer Horrorfilm. Danach hätte ich aufgezählt, was ich trotz Rheuma alles leiste. Dass sie mir mit ihren Erzählungen vom gestriegelten Hengst mit Stammbaum und den ach so unbequemen neuen Lederhandschuhen, die «wirklich furchtbar eng» seien, nicht das Wasser reichen kann. Dass ihre Handschuhe so eng wie die Scheuklappen sind, die sie ihrem Rössli geklaut hat.

Danach hätte ich mich verneigt und wäre elegant wie ein Hollywoodstar davongeschwebt.

Aber dann kam meine Impulskontrolle um die Ecke, stellte sich mir in den Weg und sagte: «Lass es. Sie ist es nicht wert.»

Manchmal stimme ich ihr zu. Manchmal nicht. Dann nehme ich die nicht gesagten Worte mit ins Bett und finde – trotz bleierner Müdigkeit – keinen Schlaf.

Das Thema «Faulheit» in Bezug auf chronisch kranke Menschen ist ein absoluter Trigger. Nicht nur für mich - es ist wohl einer der schlimmsten Irrtümer für sehr viele Betroffene. Denn wir sind nicht faul. Wir sind erschöpft. Und trotzdem so verdammt ausdauernd wie ein Atomkraftwerk im Notbetrieb.

«Ich bin so müde.» Klingt harmlos, oder? Ein Satz, den man ständig hört. Von Kolleginnen, Eltern, Freunden – oder der Hexe, nach einer Runde Galopp. 

Aber diese Müdigkeit ist anders. Sie lässt sich weder mit acht Stunden Schlaf, noch mit drei Red Bulls per Infusion beeindrucken. Das ist keine «Ich leg mich mal kurz aufs Sofa»-Müdigkeit. Das ist dieses tiefe, lähmende Gefühl im ganzen Körper.

Es ist die Art von Erschöpfung, die nicht mit Schlaf verschwindet – weil sie nicht vom Schlafmangel kommt, sondern vom Dauerkrieg im Körper. Einem System, das gegen sich selbst kämpft. Ohne Pause. Ich schlafe beim E-Mail-Schreiben ein. Kein Witz. Ich sitze am Laptop, will jemanden zurückrufen oder antworten – und zack, weg bin ich. Nicht nachts, sondern vormittags. Zwei Minuten. Fünf. Manchmal lese ich später, was ich geschrieben habe, und frage mich, ob ich versehentlich auf Dänisch umgestellt habe.

Ich war früher gerne bei der Maniküre. Sitzen, verwöhnen lassen, ein bisschen plaudern. Heute schlafe ich dabei ein. Die Nageldesignerin redet – ich döse weg. Es ist mir unangenehm. Denn ich will es geniessen. Aber mein Körper findet: «Shutdown». 

Auch Freunde treffen ist kompliziert geworden. Es stellt sich bei mir immer die Frage: ausruhen oder über die Stränge schlagen? Was in meinem Fall bedeutet, nach 21 Uhr noch wach zu sein. 

Und ja, es ist mir peinlich. Ich will funktionieren. Ich will lebendig wirken. Stattdessen sehe ich aus, als wäre ich auf dem Weg zu einem Gastauftritt bei «The Walking Dead». Nicht als Zombie, das wäre übertrieben. Aber als der Typ mit der Armbrust. Der sieht auch immer völlig erledigt aus. Nur: Der hat immerhin eine Ausrede – er killt täglich 357 Untote. Ich? Ich schaffe es manchmal nicht mal, eine E-Mail zu Ende zu tippen. 

Und trotzdem: Ich stehe auf. Ich gehe zu Terminen. Ich schreibe, ich arbeite, ich organisiere den Alltag. Ich bin da für mein Kind. Ich lache – obwohl ich eigentlich einfach nur ins Bett will.

Ich schreibe das nicht für Mitleid. Ich schreibe es für mehr Verständnis. Für all jene, die vorschnell urteilen. Für all jene, die sich selbst fragen, ob sie sich das alles nur einbilden. Für alle, die denken, sie seien einfach nur «zu wenig belastbar».

Nein. Du bist nicht faul. Du bist erschöpft. Weil du jeden Tag mit einer Krankheit kämpfst, die nicht laut schreit – aber heimlich deinen Energiespeicher abzapft. Und wenn du irgendwann nicht mehr kannst, denk daran: Du bist nicht allein. Du darfst dich nerven. Du darfst der Hexe auf dem Rössliraben auch mal die Meinung sagen – einfach mit einer intakten Impulskontrolle.

Und wenn du das nicht schaffst, ist das auch okay. Denn allein, dass du heute aufgestanden bist, obwohl du dich gerade selber wie ein Untoter fühlst, ist Grund genug, dir selbst zu applaudieren. Steck die Hexe in den Ofen. Natürlich in den kalten. Impulskontrolle und so. 

Eure Silvia

Schon gespannt, wie’s weitergeht?

Silvia Jauch schreibt jetzt regelmässig für RoB – alle drei Wochen gibt’s neue Geschichten mitten aus ihrem Leben: ehrlich, humorvoll und mit einer Prise Chaos.

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