Wie viel Leiden ist zu viel? 

Eine Diagnose ermöglicht es, sichtbaren und unsichtbaren Behinderungen einen Namen zu geben. Der Begriff Behinderungen soll beides umfassen, das Leiden, die Divergenz oder Krankheit einer Person und die gesellschaftlichen Strukturen, die ein Leben damit erschweren. 

Lucas*, 35 – der seit einem Jahr auf seine ADHS-Diagnose wartet – erzählt, wie er sich durch eine Diagnose Gewissheit erhofft. Bereits sein ganzes Leben lang hat er unter anderem Mühe, sich in der Schule zu konzentrieren, Versprechen einzuhalten oder pünktlich zu sein. Sobald er sich mit anderen verglichen hat, denen vieles leichter fiel, fühlte er sich dumm. Er hat sich daran gewöhnt, ständig negatives Feedback auf sein Verhalten und besonders seine akademischen Leistungen zu erhalten.  Er fühlt sich dabei wie ein Trampeltier, das alles kaputt macht. Lucas fühlt sich nicht verstanden. Diese Realität ist für ihn zur Normalität geworden.

«Er hat sich daran gewöhnt, ständig negatives Feedback auf sein Verhalten und besonders seine akademischen Leistungen zu erhalten.»

Louise Alberti, über Lucas*, der seit einem Jahr auf seine ADHS-Diagnose wartet.

Von solch einer Realität erzählt auch Nicole*, 26, die erst vor einem Jahr ihre ADHS-Diagnose erhalten hat. Ihre erlernten Coping-Strategien – auch Masking genannt – erlaubten es ihr lange, «normal» im System mitzuhalten und ihren Leidesdruck dabei zu verstecken. Mit ihrer ADHS-Diagnose wurde ihr klar, welchen Preis sie dafür bezahlt hat und noch immer bezahlt. Schon lange kämpft Nicole um ihre Gesundheit. Der Dauerstress durch Masking wirkt sich auf ihre psychische und physische Gesundheit aus: Depressionen und Erschöpfung tauchen als Kompensationsmechanismen für ihr ADHS auf. Die aktuelle Forschung zeigt, dass ADHS oftmals im Zusammenhang mit anderen Krankheitsbildern steht, beispielsweise mit einem erhöhten Risiko, an Angst- und Zwangsstörungen und Depressionen zu erkranken. 

Eine Antwort auf viele Fragen

Die Diagnose bedeutete für Nicole eine Art Erleichterung, sie erlaubt ihr, grosszügiger und liebevoller mit sich selbst zu sein. Dabei will Nicole mit ihrer Diagnose nicht ihr Verhalten entschuldigen, sondern vielmehr Verständnis und Einsicht für sich selbst gewinnen. Sie darf ihr ADHS ernster nehmen, denn Nicole weiss nun: «Da ist etwas, das dazu führt, dass mir gewisse Sachen schwerer fallen – und das ist in Ordnung». Die Diagnose gibt ihr mehr Vertrauen in sich selbst, samt ihren Stärken und Schwächen. In Situationen, in denen sie weiss, dass sie wieder «masken» wird, findet sie mittlerweile Strategien, anders damit umzugehen. Manchmal reicht es bereits aus, in einem Café mit dem Blick zur Wand zu sitzen, damit sie sich besser auf das Gespräch konzentrieren kann. Das erlernte Masking hat für Nicole nicht nur Nachteile – es erlaubt ihr auch, selbst entscheiden zu können, wann und mit wem sie über ihr ADHS sprechen möchte. 

«Der Dauerstress durch Masking wirkt sich auf ihre psychische und physische Gesundheit aus: Depressionen und Erschöpfung tauchen als Kompensationsmechanismen für ihr ADHS auf.»

Louise Alberti, über Nicole*.

Auch Lucas erhofft sich mit der Diagnose eine Art Anerkennung. Er hat stets sein Bestes gegeben, aber fehlende Strukturen und Strategien haben ihn in seinem Können eingeschränkt. Es sei nicht seine Schuld, sondern liege am System, dass er sich so fühle. Diesen Leidensdruck möchte er nicht länger aufrechterhalten. Lucas will Antworten auf seine vielen Fragen. Zudem wünscht er sich Zugang zu Förderung und Unterstützung, damit er eigene Strategien entwickelt kann, um ohne Leidensdruck mit seinem ADHS zu leben. Denn der Zugang zu diesen Ressourcen – in Form von Medikamenten, ADHS-Coaching oder weiteren Unterstützungsmassnahmen – ist an eine offizielle Diagnosestellung gebunden. 

«Die aktuelle Forschung zeigt, dass ADHS oftmals im Zusammenhang mit anderen Krankheitsbildern steht, beispielsweise mit einem erhöhten Risiko, an Angst- und Zwangsstörungen und Depressionen zu erkranken.»

Louise Alberti, Studentin, Aktivistin, Journalistin

Diagnosen informieren und klären auf. Sie können Betroffene und ihr Umfeld dabei unterstützten, Stärken und Schwächen besser einzuordnen und Unsicherheiten zu reduzieren. Diagnosen können Betroffene in ihren Erfahrungen bestätigen, aber auch Kontrolle bieten, indem sie helfen, individuelle Strategien zu finden, um mit dem eigenen ADHS umgehen zu können. Lukas erwähnt zudem, dass eine Diagnose nicht nur für Betroffene wichtig sei, sondern auch für Menschen im eigenen Umfeld oder die Kolleg:innen am Arbeitsplatz. Eine Diagnose kann Akzeptanz und Nachsicht mit sich bringen – egal, ob für sich selbst oder das Umfeld. Eine Benennung des eigenen Leids kann in solchen Fällen einen Ausweg aus der Ohnmacht bedeuten – das Ende einer langen Odyssee.

Brauchen wir nun also (k)eine Diagnose? 

Susanne Spalinger von der ADHS-Fachstelle elpos Schweiz fasst zusammen:

«Diagnosen braucht es, wenn ein Leidensdruck besteht. Wenn eine Person anders und allenfalls nicht normentsprechend funktioniert, aber dabei kein Norm- und Leidesdruck vorhanden ist, brauche es nicht zwingend Diagnosen.»

Susanne Spalinger, Co-Geschäftsleiterin, Leiterin Fachstelle Zürich von elpos Schweiz

Diagnosen seien nicht die Lösung, sondern ein Erklärungsmodell. Dabei ginge es nämlich nicht darum, gegen das eigene ADHS anzukämpfen oder davon wegzukommen. Susanne Spalinger betont: «Vielmehr geht es darum, den nötigen Platz und die notwendigen Ressourcen zu bekommen, um zu lernen, damit zu leben – und sich selbst anzuerkennen, so wie man ist. Und das alles ganz ohne Leidensdruck.»

*Die Namen wurden geändert, um die Personen zu schützen. Sie sind der Redaktion bekannt.

Die ADHS-Organisation elpos Schweiz ist eine Schweizer NGO, welche sich für die Verbesserung der Rahmenbedingungen von Menschen mit ADHS und ihren Angehörigen einsetzt. Elpos Schweiz bietet fundierte Informationen, kompetente Beratung und themenspezifische Veranstaltungen an; https://elpos.ch