
In Zukunft sollen Läden für den täglichen Einkauf für Menschen mit Behinderungen zugänglich sein. Dies zum Beispiel dank einer Rampe.
Kurz vor Weihnachten 2024 stellte Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider an einer Medienkonferenz den Entwurf zum neuen Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) vor. Das derzeit gültige Gesetz wurde geprüft und Teile davon überarbeitet. Gleichzeitig nahm die Bundesrätin Stellung zur Inklusionsinitiative (siehe Box).
Bereits 2023 hatte der Bundesrat den Vorentwurf zum neuen BehiG vorgestellt. Viele fanden: Der Entwurf ist unklar und erfüllt die Vorgaben der UNO-Behindertenrechtskonvention (UNO-BRK) nicht. Ebenso fehlte es an greifenden Massnahmen, damit Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft besser teilhaben können.
Der Bundesrat hörte die Kritik. Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider präsentierte an der Medienkonferenz vom 23. Dezember 2024 eine stark überarbeitete Version des BehiG. Das bedeutet zum Beispiel: Das Recht auf Nicht-Diskriminierung wird ausgeweitet. Dieses Recht wurde bisher sehr eingeschränkt durchgesetzt. Ebenso sollen digitale Produkte neu Standards der Barrierefreiheit erfüllen. So müssen zum Beispiel digitale Dokumente von den Screenreadern blinder Menschen gelesen werden können. Schliesslich weitet der Gesetzesentwurf den Diskriminierungsschutz von Arbeitnehmenden auf privatrechtliche Arbeitsverträge aus. Bisher waren nur Angestellte des Bundes geschützt. So soll neu sichergestellt sein, dass auch Menschen mit Behinderungen mitunter faire Einstellungsverfahren erhalten.
Das neue Gesetz soll am 1. Januar 2027 in Kraft treten.Aber genügen diese gesetzlichen Rahmenbedingungen, um die Inklusion von Menschen mit Behinderungen in der Schweiz merklich voranzutreiben? Wir von Reporter:innen ohne Barrieren bezweifeln dies. Denn das neue Gesetz weist in verschiedenen Bereichen Lücken auf. Hier braucht es Änderungen, damit die Neuerungen wichtige Fortschritte bringen. Wir sehen Schwachstellen in folgenden Bereichen des BehiG:
1. Menschen mit Hörbehinderung
Die Schweiz soll die Gebärdensprache offiziell anerkennen – das fordern Menschen mit Hörbehinderung schon seit vielen Jahren. Denn sie verstehen sich als eigenständige sprachliche Minderheit mit eigener Kultur. Im März 2022 hat eine Gruppe von Politikerinnen und Politikern gefordert, die Gebärdensprache offiziell anzuerkennen. Das Parlament akzeptierte die Forderung.
Doch das neue Gesetz anerkennt die Gebärdensprache nur symbolisch. Das BehiG erwähnt die Gebärdensprache. Aber für die Betroffenen verbessert sich nur wenig. Zum Beispiel gibt es keine Regelung, die den Zugang zu Dolmetschenden verbessert. Solche Dienste sind aber wichtig. Menschen mit Hörbehinderung nutzen sie, wenn sie Ärzte, Behörden oder Bildungseinrichtungen besuchen.
«Sprechen wir von den Kosten des neuen Gesetzes, dürfen wir etwas nicht vergessen: Wenn Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft teilhaben, brauchen sie weniger Unterstützung vom Staat. Das lohnt sich auch wirtschaftlich.»
Jedoch besteht Hoffnung: Der Nationalrat ist nämlich doch noch auf einen Teil der Forderungen eingegangen. Er will eine Regelung für Härtefälle einführen. Sie zählt für Menschen mit Behinderungen, die mehr Unterstützung bei der Arbeit benötigen, als es das Gesetz bis jetzt vorsieht. Dies betrifft unter anderem Menschen mit Hörbehinderungen, welche an ihrem Arbeitsplatz auf Dolmetschende angewiesen sind. Als nächstes entscheidet der Ständerat über die Regelung.
2. Finanzierung der Revision
Gemäss Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider ist genügend Geld vorhanden, um die neuen Aufgaben aus dem BehiG umzusetzen. Das gilt für die neuen Verantwortlichkeiten vom Bund und von den Kantonen. Jedoch erklärte die Bundesrätin nicht, wie genau die Berechnung aussieht.
Diese Kosten sind aber nicht zu unterschätzen. Dies zeigt das Beispiel vom Kanton Zürich: Er hat für seinen vierjährigen Massnahmenplan zur Umsetzung der UNO-BRK vier Millionen Franken eingeplant.
Caroline Hess-Klein leitet den Behindertendachverband Inclusion Handicap. Sie sagt: «Sprechen wir von den Kosten des neuen Gesetzes, dürfen wir etwas nicht vergessen: Wenn Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft teilhaben, brauchen sie weniger Unterstützung vom Staat. Das lohnt sich auch wirtschaftlich.»
3. Behindertengerechte Neubauten
Bisher müssen nur wenige neue Gebäude barrierefrei gebaut werden. Nur Wohnhäuser mit mindestens neun Wohnungen und Arbeitsgebäude mit mehr als 50 Arbeitsplätzen müssen behindertengerecht sein. Das betrifft nur etwa 11 Prozent der Gebäude, die in den letzten 20 Jahren gebaut wurden.
Das neue Gesetz senkt diese Vorgaben: Neu müssen bereits Wohnhäuser mit sieben oder mehr Wohnungen behindertengerecht gebaut werden. Arbeitsgebäude müssen barrierefrei sein, wenn sie mehr als 25 Arbeitsplätze haben. Auch bei Renovierungen sollen die Gebäude angepasst werden. Das ist eine Verbesserung. Aber: Es wird weiterhin viel gebaut, das nicht zugänglich ist. Und, diese Gebäude werden für Jahrzehnte so bleiben.
Letztes Jahr richtete sich die Fachstelle hindernisfreie Architektur gemeinsam mit Nationalrat Philipp Kutter an den Bundesrat. Sie fragten, ob ihm die schwierige Lage von Menschen mit Behinderungen auf dem Wohnungsmarkt bekannt sei. Ausserdem empfahlen sie Folgendes: Alle Gebäude sollten so geplant werden, dass sie später leicht umgebaut werden können. Das kostet nicht viel mehr. Es bringt aber langfristig grosse Vorteile.
4. Mitsprache bei der Umsetzung der UNO-BRK
Die UNO-Behindertenrechtskonvention (UNO-BRK) verlangt: Menschen mit Behinderungen sollen mitreden, wenn es um die Umsetzung der UNO-BRK geht. Warum dies wichtig ist? Das erklärt Nationalrat Islam Alijaj: «Oft werden Gesetze und Massnahmen beschlossen, ohne Menschen mit Behinderungen einzubeziehen. Können sie mitreden, entstehen bessere Lösungen.»
Gibt es ein neues Bundesgesetz, ist während der sogenannten Vernehmlassung eine Mitsprache möglich. Doch die UNO-BRK fordert einen stärkeren Einbezug, als es die Vernehmlassung erlaubt. Andreas Rieder vom Eidgenössischen Büro für Gleichstellung sagte an der Medienkonferenz, man arbeite an einer Lösung. Ein Hilfsmittel soll es der Bundesverwaltung erleichtern, Menschen mit Behinderungen einzubeziehen. Als Vorbild kann dabei der Kanton Zürich dienen. Er arbeitet mit dem Mitwirkungsmodell. Dank ihm beteiligen sich Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Behinderungsformen an der Umsetzung der UNO-BRK.
5. Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen
Viele Menschen mit psychischen Erkrankungen benötigen Hilfe von der Invalidenversicherung (IV). Und es werden immer mehr. Bereits heute erfolgt fast die Hälfte aller IV-Renten aus psychischen Gründen. Politikerinnen und Politiker sprechen regelmässig über dieses Thema. Trotzdem sieht das neue Gesetz keine Massnahmen vor.
«Oft werden Gesetze und Massnahmen beschlossen, ohne Menschen mit Behinderungen einzubeziehen. Können sie mitreden, entstehen bessere Lösungen.»
Die Organisation Pro Mente Sana ist die grösste Schweizer Stiftung für psychisch Erkrankte. Sie fordert zusätzliche Unterstützung für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Ihre Vorschläge betreffen insbesondere den Arbeitsmarkt. Zum Beispiel könnten Unternehmen Zuschüsse an die Krankentaggeldversicherung erhalten, wenn sie betroffene Personen einstellen. Oder es könnte ein dauerhaftes Beratungsangebot für Arbeitgeber und Arbeitnehmende geben. Der Bundesrat hat diese Vorschläge nicht ins neue Gesetz aufgenommen.
6. Die Frage der Zumutbarkeit von Vorkehrungen
Gemäss dem neuen Gesetz müssen Organisationen zumutbare Vorkehrungen treffen, damit Menschen mit Behinderungen am Erwerbsleben und an der Gesellschaft teilhaben können. Doch was genau müssen Organisationen künftig machen? Die Antwort fehlt im neuen BehiG. Geschrieben steht einzig: Die Interessen der Organisationen müssen jenen von Menschen mit Behinderungen gegenübergestellt werden. In anderen Worten, beide müssen geprüft werden.
Was genau gilt als zumutbare Vorkehrungen? Hier liefert der Bund ein Beispiel: Ein Schwimmbad muss seine Regeln in einfacher Sprache erklären. Das ist eine zumutbare Massnahme. Unzumutbar wäre, dass alle Mitarbeitenden die Regeln in Gebärdensprache erklären können.
7. Barrierefreier öffentlicher Verkehr
Eigentlich müsste der öffentliche Verkehr in der Schweiz bereits heute barrierefrei sein. So steht es in der aktuellen Version des BehiG. Die gesetzte Frist von 20 Jahren lief Ende 2023 aus. Das Ziel wurde nicht erreicht.
Dazu sagte Andreas Rieder vom Eidgenössischen Büro für Gleichstellung an der Medienkonferenz: Die Transportunternehmen seien nun auf dem richtigen Weg. Deshalb brauche es keine neue Frist. Das sieht Nationalrat Philipp Kutter anders: Eine gesetzliche Frist allein reiche nicht. Es brauche einen genauen Plan, der zeige, was noch fehlt und welche Fortschritte gemacht werden.
Inklusionsgesetz und IV-Revision als Gegenvorschlag zur Inklusionsinitiative
Der Verein für eine inklusive Schweiz hat im September 2024 die Inklusionsinitiative eingereicht. An der Medienkonferenz zum Behindertengleichstellungsgesetz äusserte sich der Bundesrat auch zur Initiative. Er empfiehlt, diese abzulehnen. Als Gegenvorschlag will er ein Inklusionsrahmengesetz schaffen und die Invalidenversicherung anpassen:
● Inklusionsrahmengesetz: Der Fokus liegt auf dem Bereich Wohnen. Menschen mit Behinderungen sollen überall in der Schweiz eine echte Wahl haben, wo und wie sie wohnen wollen. Beispielsweise, ob sie in einer eigenen Wohnung oder in einer Institution leben möchten.
● Revision der Invalidenversicherung: Menschen mit Behinderungen sollen leichter einen Assistenzbeitrag erhalten. Ebenso sollen sie einfacher an technische Hilfsmittel kommen. Gleichzeitig fordert der Bundesrat, dass die Invalidenversicherung einen Teil ihrer Schulden abbaut. Diese Vorgaben könnten im Konflikt stehen.