Auf dem Bild wandert eine Gruppe von Menschen auf einem Wanderweg. Einige Meter vor der Gruppe fährt eine Person im Rollstuhl. Der untere Teil des Bildes ist üppig grün, die Gruppe wandert von rechts nach links in Richtung eines freistehenden Baumes auf einem Hügel. Der Himmel nimmt fast die Hälfte des Bildes ein, wobei der obere Teil des Himmels blau, der untere Teil mit Wolken behangen ist.

Inklusion ist auch auf Wanderungen möglich: Schüler:innen der Sekundarschule Frenkendorf sind gemeinsam unterwegs. Bildnachweis: Projekt Bottom UP.

Halb 8 Uhr morgens, eine Gruppe von jungen Menschen sowie deren Lehrer- und  Begleiter:innen, frühstücken entspannt im Sternen Walkringen, einem kleinen Dorf im Herzen des Emmentals. Noch ist die Temperatur angenehm kühl und die Jugendlichen sind munter und motiviert. Schulhund Jimmy bellt vor Freude und Aufregung. Es ist der 7. Wandertag des Projektes Bottom Up», welches die Gruppe von Frenkendorf BL nach Beatenberg BE führt.

200km legen die 34 Schüler:innen zu Fuss in 10 Tagen zurück. Sie übernachten unterwegs auf einem Bauernhof, im Garten einer Gemeindepräsidentin, in Zivilschutzanlagen und Turnhallen. Die Ziele dieses Projektes sind vielfältig. Im Zentrum steht dabei symbolisch der Weg der Klasse in die Welt hinaus. Bei den Jugendlichen der 8. Klasse steht die Lehrstellensuche an. Gemeinsam sollen sie erleben, dass Schwierigkeiten überwindbar sind.

Das Abenteuer soll auch zeigen, dass Inklusion möglich ist, dass der Klassenkollege und die Assistenzlehrerin im Rollstuhl ganz selbstverständlich dazugehören. Und dafür sensibilisieren, dass der Weg in die Arbeitswelt für Menschen mit einer Behinderung noch einmal schwieriger ist als für andere.

Eine verrückte Idee

So überzeugend das Unterfangen tönt, nicht alle waren von Anfang an begeistert: «Das ist ja verrückt», habe er sich gedacht, als er das erste Mal davon hörte, erzählt ein Schüler. Andere stimmen ihm zu. Aber am Ende hätten sie sich dann doch gefreut, als Klasse 10 Tage gemeinsam unterwegs zu sein und etwas anderes als Schule zu erleben.

«In Projekten wie dieser Wanderung erleben diese jungen Menschen ihre Stärken und bekommen dafür auch Anerkennung. Die Jugendlichen gewinnen an Selbstwert und Selbstwirksamkeit.»

Michael Röthlin, Klassenlehrer Sekundarschule Frenkendorf

Verrückt sind sie möglicherweise tatsächlich etwas, diese vier Lehrer:innen und die beiden Klassenassisteninnen, die das Projekt seit zwei Jahren geplant haben. Sie unterrichten gemeinsam die beiden Klassen, bilden jeweils zu zweit ein Klassenlehrteam.  Allein das Rekognoszieren der Route hat insgesamt 34 Tage in Anspruch genommen. Hinzu kamen unzählige Stunden für das Organisieren der Unterkünfte, der Freiwilligen und der Finanzen. Judith Burkhalter macht diesen Job mit Leib und Seele: «Es ist ein Aufwand, so zu unterrichten, aber ich tue das, weil es meiner Haltung entspricht und mir Spass macht.»

Eine halbe Stunde später ist die Klasse im Walkringer Moos unterwegs, als ein weiterer Schüler und die Klassenassistentin Övkügül Angi, beide im Rollstuhl, zur Wandergruppe hinzustossen. Beide leben mit einer seltenen Muskelerkrankung und übernachten aufgrund der Behinderungen jeweils zuhause. Per Minibus treffen sie im Moos ein und werden herzlich begrüsst.

Ein ganzer Tross begleitet dieses Projekt: Freiwillige Fahrer:innen, welche das Essen und das Gepäck transportieren, einen Fahrer speziell für den Schüler im Rollstuhl. Mit dabei ist auch ein ehemaliger Schüler und Lehrer-Senioren aus Frenkendorf, die alle mitwandern oder sonst wie unterstützen. Und den einen oder anderen Zwischenfall abfangen, so dass die Lehrpersonen in den 10 Tagen auch mal Durchatmen können. Judith Burkhalter sieht darin eine wertvolle emotionale Komponente: «Unsere Jugendlichen merken, dass sie von vielen Menschen getragen werden, dass echtes Interesse an ihnen besteht, das tut ihnen gut.»

11 junge Menschen posieren gemeinsam mit der Klassenassistentin Övkügül Angi auf einem Wanderweg. Auf der linken Seite und oben im Bild sind Büsche zu sehen. Vier der 11 Schüler:innen tragen dasselbe violette T-Shirt, das extra für die Reise gestaltet wurde.

Spontaner Schnappschuss: Sekundarschüler:innen des Pavillon C, Sekundarschule Frenkendorf, sammeln sich um Klassenassistentin Övkügül Angi (Mitte, sitzend). Bildnachweis: Nicole Haas.

Inklusion auch im Lehrpersonenteam

Eine besondere Geschichte verbindet die Klassenassistentin Övkügül Angi mit der Klasse. Sie war bis vor 5 Jahren selbst Schülerin bei diesem Klassenteam. Im Laufe der Schulzeit ging es ihr gesundheitlich immer schlechter, eine fortschreitende Muskelerkrankung wurde diagnostiziert. Die vier Lehrer:innen erlebten zum ersten Mal eine Schülerin im Rollstuhl und engagierten sich dafür, dass sie weiterhin am Unterricht teilhaben konnte. Sie war auch an der Vorgängerversion dieser Wanderung beteiligt, die damals über den Gotthard führte.

Am Ende der 9 Schuljahre ging es für Angi um die Berufswahl. Ihr Wunsch war bereits damals klar: «Ich wollte eigentlich schon immer Klassenassistentin werden», erzählt sie. Und führt aus: «Es macht mir Spass, einzelne Schüler:innen oder eine ganze Gruppe bei Aufgaben im Unterricht zu unterstützen.»

Nach ihrer Schulzeit begann Övkügül Angi eine Lehre als Büroassistentin, diese musste sie aufgrund ihrer gesundheitlichen Einschränkungen abbrechen. Als später eine Teilzeitstelle als Klassenassistentin zu vergeben war, dachte das Lehrpersonenteam sofort an sie. «Ich wurde auch schon gefragt, ob ich Övkügül aus Mitleid angestellt hätte», erzählt Judith Burkhart. Für sie ist der Fall klar: «Ich hätte gar keine Ressourcen, um jemanden aus Mitleid anzustellen. Sie arbeitet mit uns, weil sie dafür geeignet ist und wichtige Arbeit erledigt!»

«Unsere Jugendlichen merken, dass sie von vielen Menschen getragen werden, dass echtes Interesse an ihnen besteht, das tut ihnen gut.»

Judith Burkhart, Klassenlehrerin Sekundarschule Frenkendorf

Mit dem Rollstuhl begegnet Angi an diesem Morgen mehreren Hindernissen. Zwar wandert die Gruppe viele Wege über Asphalt, aber es ist auch ein sehr holpriger Feldweg mit dabei. Mehrmals stoppt Angi vor einer Regenwasserrinne am Boden, kehrt den Rollstuhl um 180 Grad und rollt rückwärts darüber. Manchmal benötigt sie etwas Unterstützung, meistens geht es ohne. Ein anderer hingegen muss eine Pause einlegen: Schulhund Jimmy setzt die Hitze zu, er wechselt vorübergehend ins Begleitfahrzeug.

Die Schüler:innen haben sich in kleinen Projekten ebenfalls schon lange auf die Tour vorbereitet. Eldin hat einen offiziellen Wanderstab kreiert, auf dem die Namen aller Klassenmitglieder eingebrannt sind. Andere haben Buttons gestaltet. Die beiden Klassen haben regelmässig ihre Schuhe gemeinsam eingelaufen, so dass in den 10 Tagen möglichst wenig unerwartete Schuhprobleme auftauchen. 3 Schüler:innen sind «Fliegende Reporter:innen» und beliefern den Social Media Account des Projektes sowie das Powerup Radio des Pestalozzidorfes mit Bildern und Informationen.

Auch wenn äusserlich vorwiegend die beiden Rollstuhlfahrenden auffallen: Die Klasse ist generell sehr durchmischt. Ein Junge lebt mit Autismus, weitere verhalten sich bisweilen auffällig, andere haben aufgrund von Lernschwierigkeiten reduzierte Lernziele. 90% haben einen Migrationshintergrund. Das alles ist an diesem Morgen nicht spürbar.

Perspektivwechsel durch projektbasierten Unterricht

Die vier Klassenlehrpersonen haben über viele Jahre ein eingespieltes Unterrichtsmodell entwickelt. Die beiden Klassen organisieren sich im Verbund, nutzen ihre Ressourcen gemeinsam. Die Wand zwischen ihren beiden Unterrichtszimmern im externen Pavillon C der Sekundarschule in Frenkendorf wurde entfernt, sie teilen somit einen Raum. Ein wichtiges bauliches Merkmal, das diese Unterrichtsform erst ermöglicht.

Die 10tägige Wanderung ist ein zentrales Element in den drei Oberstufenjahren, durch welche sie diese beiden Klassen begleiten. Das Team ist der festen Überzeugung, dass es ihnen mit Projekten besser gelingt, die jungen Menschen in einen Lernprozess und in Verantwortung einzubinden und sich diese dadurch anders entwickeln.

«Ich wurde auch schon gefragt, ob ich Övkügül aus Mitleid angestellt hätte. Ich hätte gar keine Ressourcen, um jemanden aus Mitleid anzustellen. Sie arbeitet mit uns, weil sie dafür geeignet ist und wichtige Arbeit erledigt!»

Judith Burkhart, Klassenlehrerin Sekundarschule Frenkendorf

Gemäss Michael Röthlin, ebenfalls Teil des Klassenlehrteams, ermöglicht der projektbasierte Unterricht sowohl seinen Schüler:innen als auch deren Umfeld einen Perspektivwechsel: «In Projekten wie dieser Wanderung erleben diese jungen Menschen ihre Stärken und bekommen dafür auch Anerkennung. Üblicherweise haben die tiefsten Niveau-Klassen einen eher schlechten Ruf innerhalb einer Schule und bekommen das auch zu spüren. Solche Projekte wirken dem entgegen. Die Jugendlichen gewinnen an Selbstwert und Selbstwirksamkeit.»

Mitte des Vormittages ist die aufkommende Hitze bereits spürbar, einige Schüler:innen klagen über Schmerzen oder hinken gar. Die Klasse macht eine kurze Pause im Gras. Doch die Entspannung währt nur kurz, die Wetter-App zeigt ein aufziehendes Gewitter an. Michael Röthlin ruft bald wieder zum Aufbruch. Beim Abstieg nach Konolfingen wird es steil. Zu steil für die Bremsen des Elektrorollstuhles. Rasch ist das Bergseil ausgepackt, mit diesem unterstützen zwei Schüler routiniert den Rollstuhl ihres Mitschülers beim Weg nach unten ins Tal.

Kurz vor Konolfingen kommt die Gewitterfront bedrohlich nahe. Rasch wird die Besitzerin des einzigen Hauses weit und breit angefragt, ob die Gruppe während des Regengusses unterstehen kann. Nach etwa 20 Minuten ist der Spuk vorbei und die Gruppe wandert, mittlerweile müde und verschwitzt, zum Ortsrand von Konolfingen. Die Reporterin ohne Barrieren verabschiedet sich. Drei Tage später verkündet das Projekt «Bottom Up» auf Social Media die Ankunft in Beatenberg. Die 200km sind geschafft. Auch Klassenhund Jimmy ist angekommen und Protagonist eines Videos auf Instagram: Unaufhörlich rennt er umher und bellt freudig.