In der UN-Behindertenrechtskonvention ist immer wieder von Partizipation die Rede. Sie wird in Artikel 4 auch explizit bei der Umsetzung der Konvention gefordert. Aber was bedeutet das konkret und wie kann ein Kanton dies gewährleisten? Im Kanton Zürich findet am 24. Oktober die Partizipationskonferenz statt, an welcher sich Vertreter:innen von Menschen mit Behinderung, des Kantons und der Gemeinden für einen Dialog über den aktuellen Stand der Umsetzung treffen. Die jährlich stattfindende Konferenz ist eine Massnahme von vielen, welche die Teilhabe bei der Umsetzung der UN-BRK im Kanton Zürich sicherstellen soll.

In einer dreiteiligen Serie widmen sich die Reporter:innen ohne Barrieren dem Thema Partizipation. Den Auftakt macht ein Interview mit Franziska Felder, Professorin für Inklusion und Diversität am Institut für Erziehungswissenschaft der Uni Zürich. Sie hat sich intensiv mit Fragen rund um Partizipation und Inklusion beschäftigt.

Franziska Felder hat kurze, dunkle Locken und blickt in die Kamera. Sie trägt einen Caramellbraunen Blazer. Felder lächelt in die Kamera.

Reporter:innen ohne Barrieren: Wenn ich Partizipation umgangssprachlich zu benennen versuche, dann würde ich es als „mit dabei sein und mitreden“ beschreiben. Liege ich damit richtig?

Franziska Felder: Ich finde schon. Die direkte Übersetzung ist häufig Teilhabe. Und es gibt Ansätze, die unterscheiden zwischen teilhaben, teilnehmen und Teil sein. Ich mag am Partizipationsbegriff, dass er anders als der etwas starre Inklusionsbegriff, etwas Aktives hat. Partizipation fokussiert stärker auf ein aktives Mitgestalten.

Es ist eine urmenschliche Erfahrung von uns Menschen, dass wir ziemlich früh im Leben spüren, dass wir „mit dabei sein wollen“. Zum Beispiel als Kind in der Schule: Dort spüren wir instinktiv, wer tonangebend und anerkannt ist. Warum ist das so?

Es ist heute eine generell geteilte Annahme, dass der Mensch ein soziales Wesen ist. Und zwar von Anfang an. Deswegen suchen wir die anderen und sind auch auf sie angewiesen. In einem basalen Sinn ist das fürs Überleben wichtig. Nicht nur für ein gutes Leben im Sinne der Partizipation, sondern ganz generell.

Wie entwickelt sich dieses Bedürfnis im Lauf der Zeit?

Zu Beginn sind wir passiv darauf angewiesen, dass das vorhanden ist. Wir können als Baby dies nur beschränkt selbst suchen. Diese selbständige Suchbewegung entsteht aber bald nach der Geburt, unser Blick richtet sich auf enge Bezugspersonen, und das weitet man im Laufe des Lebens aus. Der Mensch wird immer aktiver in dieser Suche. Wir suchen nach Menschen, die uns guttun, wo wir dazu gehören wollen. Und im besten Fall finden wir auch Menschen, wo das gegenseitig ist, wo auch etwas zurückkommt. Anerkennung zum Beispiel.

Welchen Stellenwert hat Partizipation in der UN-BRK?

Einen sehr hohen, der Begriff ist dort gewichtiger als jener der Inklusion. Es geht aus Sicht der UN-BRK nicht nur darum in einem System mit dabei zu sein, sondern ein System, eine Institution oder einen Prozess auch aktiv mitzugestalten. Das aktive Mitgestalten beinhaltet viel mehr Aspekte als nur die Frage „Ist ein System zugänglich oder nicht“, es geht um Beziehungen und gemeinsames Handeln im System drin.

«Wenn ein Prozess partizipativ sein soll, dann muss er so gestaltet werden, dass alle mit ihrem Wissen mitmachen können, auch wenn das „nur“ Erfahrungswissen ist. »

Franziska Felder, Professorin für Inklusion und Diversität

Artikel 4, Absatz 3 sagt explizit, dass Menschen mit Behinderung bei der Ausarbeitung und Umsetzung von Rechtsvorschriften und politischen Konzepten zur Durchführung dieses Übereinkommens einbezogen werden sollen. Haben Menschen mit Behinderung überhaupt die Ressourcen dazu, bei der Ausarbeitung von Rechtsvorschriften mitzuwirken?

Amtsvorgänge haben ihre eigene Sprache und ihre eigenen Regeln. Diese kann und soll man nicht einfach Aushebeln. Zum Beispiel kann man nicht ändern, wie ein Gesetz verfasst sein muss oder wie eine Verfügung aussehen muss. Trotzdem muss es irgendeine Form der Vermittlung geben, sonst ist Teilhabe nicht möglich. Wenn wir sagen: „Ja, wir hören die mal an, danach ignorieren wir die komplett“, dann ist das keine Teilhabe, das ist dann ein Feigenblatt oder Pseudo-Partizipation. Hier setzt die UN-BRK eine klare Grenze, sie will eine ernsthafte Partizipation.

Wie gelingt dies?

Wenn ein Prozess partizipativ sein soll, dann muss er so gestaltet werden, dass alle mit ihrem Wissen mitmachen können, auch wenn das „nur“ Erfahrungswissen ist. Wenn man aber nicht sicherstellt, dass alle ernst genommen und auf Augenhöhe mitmachen können, dann ist es zwar gut gemeint, führt aber zu Ausschlüssen. Oder es führt zu gut gemeinten Aktionen, man redet von Partizipation, aber macht sich wenig Gedanken, wie diese genau ausschaut. Ich finde es fast schlimmer, wenn man so tut, als ob alle partizipieren können, als wenn man einfach klar sagt, wenn das nicht der Fall ist.

Was kann man also tun?

Ein wichtiger Aspekt ist eine gemeinsame Sprache zu haben. Wenn Amtsträger oder auch Ärzt:innen in Fachchinesisch verfallen und dann nur noch Worte verwenden, die dieser Fachsprache entsprechen, dann verliert sich die Augenhöhe.

«Ich finde es fast schlimmer, wenn man so tut, als ob alle partizipieren können, als wenn man einfach klar sagt, wenn das nicht der Fall ist.»

Franziska Felder, Professorin für Inklusion und Diversität

Der Kanton Zürich hat einen Aktionsplan erarbeitet für die Sicherstellung der Partizipation bei der Umsetzung der UN-BRK. Darin gibt es unterschiedliche Gefässe und unterschiedliche Wege. Ist das eine gute Form der Partizipation?

Ich finde schon. (AdR: Franziska Felder war nicht beteiligt bei der Erstellung des Aktionsplans). Am Ende muss man sehen, wie es umgesetzt werden kann. Es gibt auch hier Ängste, dass die Partizipation am Ende an mangelnden Ressourcen scheitert oder dass Forderungen aufkommen, denen man nicht nachkommen kann. Es gibt auch die Befürchtung, dass nur jene zum Zuge kommen, die am lautesten auf ihre Bedürfnisse aufmerksam machen.

Wie kann das verhindert werden?

Es geht aus meiner Sicht nun darum, mit dieser sehr gut geplanten Ausgangslage gemeinsam voranzugehen und zu schauen, wie es läuft. Diese Erfahrungsschritte sind notwendig. Wünschenswert wäre, dass Behörden lernfähig sind, soweit das möglich ist. Eine Behörde lebt aber auch vom juristischen und politischen Spielraum, den sie hat, der ist nicht beliebig gross.

«Ich möchte davor warnen, dass wir einzig Behörden und Menschen mit Behinderung bei der Umsetzung der UN-BRK in der Pflicht sehen. Die ideelle Umsetzung der Konvention geht jeden einzelnen von uns etwas an. Nur die Gesellschaft als Ganzes kann nachhaltige Prozesse durchlaufen. »

Franziska Felder, Professorin für Inklusion und Diversität

Was kann man sonst noch tun?

Ich möchte davor warnen, dass wir einzig Behörden und Menschen mit Behinderung bei der Umsetzung der UN-BRK in der Pflicht sehen. Die ideelle Umsetzung der Konvention geht jeden einzelnen von uns etwas an. Nur die Gesellschaft als Ganzes kann nachhaltige Prozesse durchlaufen. Wir kennen das von Themen wie dem Frauenstimmrecht oder der „Ehe für alle“. Das dauert oft länger, als es sich einzelne Betroffene verständlicherweise wünschen. Aber wenn wir wollen, dass Inklusion und Partizipation irgendwann selbstverständlich sind, dann müssen wir jeden mit ins Boot holen.