
Der Film begleitet Musiker Dino Brandão und sein Umfeld während einer manischen Episode seiner bipolaren Erkrankung. Bildnachweis: Outside the Box.
Moris Freiburghaus telefoniert angespannt. Er läuft im Zimmer hin und her, streicht sich mit den Händen über den Kopf. Am anderen Ende der Leitung spricht die Chefärztin der psychotherapeutischen Klinik. Dino sei aus der Einrichtung abgehauen, die Polizei suche bereits nach ihm. Moris ahnt, wo sich sein Freund aufhalten könnte: in seinem Atelier – dem einzigen Zufluchtsort, dessen Adresse die Polizei nicht kennt. Moris ist moralisch im Klinsch.
Moris Freiburghaus ist nicht nur Dino Brandãos langjähriger Freund, sondern auch der Regisseur des Films «I Love You, I Leave You». Während mehreren Wochen begleiteten er und sein Team den Musiker und sein Umfeld während einer manischen Episode seiner bipolaren Erkrankung.
Mit der Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen und gezielt angebrachter Kritik, will Moris zu seinem Freund durchdringen. Durch die nahe Freundschaft erzeugt der Film viel Nähe und zeigt, wie dünn das Eis ist zwischen Vertrauen und Verrat, zwischen Unterstützung und Bevormundung.
Worte sind nicht immer nötig
Der Auftakt des Films überrascht, angesichts der Schwere des Themas: Er wirkt weich und entspannt. Die Kamera zeigt, wie Dino Brandão Musikequipment zusammenstiefelt. Es gibt keinen Dialog, keine begleitende Musik. Aufmerksamen Zuschauenden fällt bereits der subtile Gastauftritt des Filmtitels auf: als Schriftzugs auf der Rückseite des Klaviers.
«Dino ist aus seiner Sicht «King» über sein Leben.»
Dann ein Zeitsprung. Nach einer Kostprobe eines Konzerts von Dino und Band wird die Geschichte einige Monate zurückkatapultiert. Die Stimmung verändert sich.
Auch wenn weiterhin liebliche Szenen wie Sonnenuntergänge und Streifzüge auf dem Skateboard zu sehen sind, werden die Bilder von zunehmend ominösen Klängen begleitet. Darauf folgt eine interessante Kameraführung: aus der Perspektive eines Flugzeuges, wie die Startbahn dahingleitet, bis das Bild in den Himmel schwenkt – der Start in einer manischen Episode?
Durch die verschiedenen Ebenen gelingt es den Filmemachern, auf mehrschichtige Art und Weise Zugang zum Thema zu schaffen.

Regisseur Moris Freiburghaus begleitet seinen engen Freund mit der Kamera. Bildnachweis: Outside the Box.
Irgendwo zwischen «Vertrauet mier! Ich weiss, was ich mache.» und «Es het Ziite gäh, da hesch du undere Zug welle!»
Im weiteren Verlauf wird schnell klar, wie fest die Manie Dino im Griff hat. Er ist sich dessen zwar bewusst, kann sich aber den Auswirkungen seiner bipolaren Erkrankung nicht entziehen: Sich gereizt und lautstark über Gegebenheiten empören, wobei zwischen handfest und belanglos nicht unterschieden wird. In kurzer Zeit Unmengen an Geld ausgeben. Waren vom Aussenbereich von Geschäften stehlen. Stimmungsschwankungen, Hochgefühle und kein Bedarf nach Schlaf. Fremdgesteuert ist Dino aus seiner Sicht «King» über sein Leben. Er habe «so einen guten Plan» und man solle den Dingen einfach ihren Lauf lassen.
«Ein Mensch braucht Hilfe, lässt sich aber nicht helfen.»
Auf der anderen Seite steht Dinos soziales Umfeld. Freund:innen und Familie, die die Symptome erkennen und sich in Alarmbereitschaft begeben. Dinos Vater, Carvalho Brandão, durch jemanden alarmiert, steht mit einem Plastiksack mit Medikamenten auf der Matte und versucht, durch Gespräche zu seinem Sohn durchzudringen. Erfolglos. Dino blockt Hilfeleistungen vehement ab und verweigert die sedierenden Medikamente.
Durch Gespräche und Anmerkungen im Film geht hervor, dass sich bereits zuvor eine vergleichbare manische Episode abgespielt hat. In einem Videoanruf erinnert sich Dinos Schwester, es seien damals auch Suizidgedanken im Spiel gewesen. «Das isch wäge de fucking Medikamänt gsi!» entgegnet der aufgebrachte Dino und begründet so seine Abneigung einer erneuten medikamentösen Behandlung.
Bipolare Erkrankung
In der Schweiz leben etwa 2 bis 3% der Bevölkerung mit Bipolarität. Diese psychische Erkrankung zeigt sich in einem unkontrollierbaren Wechselbad von einem Extrem, der Manie, ins andere, die Depression. Laut der Schweizerischen Gesellschaft für Bipolare Störungen sind die Ursachen nicht abschliessend geklärt und vielfältig. Neben genetischen und biologischen Faktoren können auch psychische Belastungen die Entstehung der Krankheit beeinflussen.
«Ich cha da imfall nöd nomal mitmache.»
Eine scheinbar aussichtslose Situation: Ein Mensch braucht Hilfe, lässt sich aber nicht helfen. So ziehen sich die Mutter, Schwester und die Freundin von Dino aus erneuten Verantwortungen zurück. Am Telefon mit Moris Freiburghaus sagt Dinos Mutter schwermütig, sie habe nicht noch einmal die Kraft dazu. Während der letzten manischen Episode habe es oft Streit gegeben und obwohl Dinos Wohlergehen Priorität habe, sei die Belastung einfach zu gross. Der Filmtitel «I Love You, I Leave You» gewinnt an Tiefe und Bedeutung.
«Es ist diese Nähe, die beeindruckt und die psychische Erkrankung auf eine unverblümte Art und Weise sichtbar macht.»
In seiner Drehscheibenfunktion hält Moris die Brücken zu mehreren Seiten aufrecht. Er ist im Kontakt mit Kliniken, der Polizei, mit Dinos Umfeld und hält jederzeit im Auge, wo sich sein Freund aufhält. Dies oft zu Lasten eigener Energiereserven und zu guter Letzt auch entgegen dem Vertrauen zu seinem engen Freund. So wird Moris unter dem Strich Komplize einer Zwangseinweisung in eine psychiatrische Klinik.

Der Film macht psychische Erkrankung auf eine unverblümte Art und Weise sichtbar macht. Dino Brandão in seinem Studio. Bildnachweis: Outside the Box.
Das reale Leben
Trotz der schweren Materie gelingt es dem Dokumentarfilm, eine gewisse Leichtigkeit beizubehalten – dank einer Prise Galgenhumor und schönen Momenten. Etwa, wenn Dino und sein Vater singend durch die Gänge der Klinik spazieren. Oder wenn sich Dino im Nachhinein schelmisch eingesteht, die Polizei anzuspucken, sei wohl nicht so schlau gewesen.
Der Film «I Love You, I Leave You» hat am Zürich Filmfestival 2025 sein Debut gefeiert und wurde in Folge zweimal ausgezeichnet: Mit dem Golden Eye Award und dem Audience Award. Seither sind Dino und Moris gefragt, rennen von einem Interview zum anderen, der Dokumentarfilm ist in aller Munde. Sie hätten sich in den letzten paar Tagen schon etwas «leer geredet», so Moris Freiburghaus auf Anfrage. «Es ist sehr wichtig, auch mal bitzli Abstand gewinnen zu können.»
«Trotz der schweren Materie gelingt es dem Film, eine gewisse Leichtigkeit beizubehalten – dank einer Prise Galgenhumor und schönen Momenten.»
Eines ist aber klar: Es braucht eine gehörige Portion Mut für solch ein Projekt. Vor allem für Dino Brandão, sich in dieser wehrlosen Haltung zu zeigen.
Es ist diese Nähe, die beeindruckt und die psychische Erkrankung auf eine unverblümte Art und Weise sichtbar macht. In einer Gesellschaft, in der mentale Gesundheit nach wie vor stark tabuisiert wird, erlauben solche tiefen Einblicke wichtige Annäherungen. Ganz im Sinne des Abspannsongs im Film von Dino Brandão; «Nothing To Hide!», – «Nichts zu verstecken.»




