Eine Gruppe von ca. 20 Menschen steht vor dem Bundeshaus, dessen Sandsteinmauern im Hintergrund zu sehen sind. Alle blicken in Richtung des rechten Bildrandes, vermutlich in Richtung einer anderen Kamera. Es gibt verschiedene bekannte Gesichter der Behindertenbewegung: Islam Alijaj, Tatjana Binggeli, und Cyril Mizrahi und weitere. Viele tragen eine Maske, was einen Zusammenhang mit der damals akuten Covid-Pandemie haben dürfte. Eine Person im Rollstuhl hat zu ihren Füssen ein grosses gelbes Kartonschild platziert:«Inklusion jetzt» steht drauf.

Kämpfen seit vier Jahren für eine bessere Inklusion: Behindertenrechtsaktivist:innen rund um Islam Alijaj, heutiger SP-Nationalrat, bei der Kick-off-Veranstaltung zur Inklusionsinitiative im September 2021. Bildquelle: Daniel Graf.

Die Euphorie war gross, als im Dezember der Bundesrat bekannt gab, einen Gegenvorschlag für die Inklusionsinitiative machen zu wollen. Von einem grundlegenden Wandel war die Rede, gar einem historischen Moment. Seither warteten alle gespannt auf die konkrete Umsetzung. 

Und nun? Kurz vor der Sommerpause publizierte der Bundesrat einen Entwurf für ein Inklusionsrahmengesetz und eine kleine IV Revision, zur Anpassung der Assistenzleistungen. Agile, die grösste Selbstvertretungsorganisation der Schweiz, zeigte sich in einer ersten Stellungnahme «entsetzt». Das Gesetz bleibe in vielen Punkten vage und unverbindlich, und das zentrale Anliegen der Initiative – die freie Wahl des Wohnortes und der Wohnform - würden weitgehend ignoriert. 

«Will das Inklusionsgesetz seinem Namen gerecht werden, müsste der Geltungsbereich so festgelegt werden, dass das Gesetz grundsätzlich für alle Menschen mit Behinderungen greift.»

Inclusion Handicap, Dachverband Behindertenorganisationen

Simone Leuenberger, EVP-Grossrätin aus dem Kanton Bern und Mitglied des Initiativkomitees der Inklusionsinitiative schrieb in einem Kommentar auf Linkedin: «Das vorgeschlagene Inklusionsrahmengesetz verdient den Namen nicht: Was ein Rahmen sein soll, ist höchstens eine morsche Latte...» Und Inclusion Handicap, Dachverband der Behindertenorganisationen, sieht mit dem Entwurf die Weichen für eine progressive Inklusionspolitik der nächsten 10 bis 20 Jahre falsch gestellt und hat deshalb an der Delegiertenversammlung eine Resolution verabschiedet, die eine deutliche Nachbesserung in verschiedenen Punkten fordert. 

Aber woraus besteht die Kritik konkret? Die verschiedenen Stellungnahmen von Behindertenorganisationen und der erläuternde Bericht des Bundesrates zeigen auf, worüber sich die Geister scheiden.

Kritikpunkt #1: Der verwendete Behinderungsbegriff

Ein zentraler Stein des Anstosses ist der im neuen Gesetz verwendete Behinderungsbegriff. Das Inklusionsgesetz soll nur für Menschen mit Behinderungen gemäss Artikel 112 lit. b der Bundesverfassung gelten. Dieser erfasst jene Personen, die in irgendeiner Form Leistungen der Invalidenversicherung beziehen. Das kann eine Rente, eine Wiedereingliederung, eine Hilflosenentschädigung oder der Bezug eines Hilfsmittels sein.

«Sowohl die Inklusions-Initiative, wie auch die vom Parlament angenommene Motion zur Modernisierung des IFEG fordern, dass der Bundesrat den Bereich Wohnen grundlegend überarbeitet. Das macht er im Vernehmlassungsentwurf aber keineswegs.»

Inclusion Handicap, Dachverband Behindertenorganisationen

Es gibt viele Menschen mit Behinderungen, die keine Leistungen der IV beziehen. Zum Beispiel jemand, der im AHV-Alter einen Hirnschlag erleidet oder einen Unfall hatte und auf Hilfsmittel angewiesen ist. Oder auch Personen mit Dyslexie oder ADHS, das erst im Erwachsenenalter diagnostiziert wurde. Aber zum Beispiel auch Menschen mit Schmerzstörungen, bei denen sich die IV regelmässig auf den Standpunkt stellt, es bestehe medizinisch gesehen keine begründbare Arbeitsunfähigkeit. Alle diese Menschen sind bei Verwendung dieses Behinderungsbegriffs vom Gesetz ausgeschlossen.

Die Delegierten von Inclusion Handicap verlangen in ihrer Resolution eine Anpassung des Behinderungsbegriffes im Inklusionsrahmengesetz, da sonst drei Viertel der Menschen mit Behinderungen vom Gesetz ausgeschlossen seien. 

Auf Anfrage konkretisiert IH noch weiter: «Will das Inklusionsgesetz seinem Namen gerecht werden, müsste der Geltungsbereich so festgelegt werden, dass das Gesetz grundsätzlich für alle Menschen mit Behinderungen greift. Wenn der Geltungsbereich in begründeten Fällen eingeschränkt werden muss, kann dies in den Bestimmungen zu den einzelnen Lebensbereichen definiert werden.»

«Ich würde mir wünschen, dass die Kantone gemeinsam mit Menschen mit Behinderungen sowie dem Bundesamt für Sozialversicherungen BSV und Institutionsvertretenden, für die Entwicklung des Rahmengesetzes, nicht nur für Alibiaustausche beigezogen werden.»

Christoph Fenner, Leiter Behindertenhilfe Kanton Basel-Stadt

Kritikpunkt #2 Keine einklagbare rechtliche und tatsächliche Gleichstellung

Ein Kernanliegen der Inklusionsinitiative ist verschwunden im Gesetzesentwurf: Die rechtliche und tatsächliche Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen. Die Initiative wollte diese Formulierung in die Bundesverfassung aufnehmen, analog zur Gleichstellung von Mann und Frau. 

Was nach Wortklauberei klingt, ist juristisch relevant: Der Anspruch auf eine rechtliche und tatsächliche Gleichstellung würde eine Verbesserung gegenüber dem aktuellen Diskriminierungsschutz nach Art. 8 Abs. 4 BV darstellen. Der Diskriminierungsschutz für Menschen mit Behinderungen würde so dem Schutz vor Geschlechterdiskriminierung in Art. 8 Abs. 3 BV angeglichen. Im Bereich der Geschlechterdiskriminierung wurde auf dieser Verfassungsgrundlage griffigere Gesetzesbestimmungen eingeführt, insbesondere im Bereich Arbeit – ein Lebensbereich, der im Gegenvorschlag nicht vorkommt.

Kritikpunkt #3: Am Bereich Wohnen wird wenig gerüttelt

Bereits vor der Einreichung der Inklusionsinitiative überwies die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates eine Motion an den Bundesrat, welche die Modernisierung des IFEG, des bestehenden Heimgesetzes, fordert. Dieses Gesetz ist ein wesentlicher Pfeiler der bisherigen Behindertenpolitik, es regelt die Anerkennung von kantonalen Institutionen, wie Wohnheimen, Tagesstätten und Werkstätten. 

Hintergrund der Motion war die Feststellung in Berichten und Gutachten, dass das bestehende Gesetz hinderliche Bestimmungen für die Wahlfreiheit von Menschen mit Behinderungen beim Wohnen beinhalte. 

«Die Ausweitung des Assistenzbeitrages auf Menschen mit eingeschränkter Handlungsfähigkeit ist begrüssenswert. Doch wenn der Assistenzbeitrag selbst nicht verbessert und vereinfacht wird, wird es für diese neue, sowie für bisherige Zielgruppen wirkungslos bleiben.»

Philipp Schüepp, Leiter Kommunikation, Politik und Strategie bei Pro Infirmis

Der Bundesrat hat nun Teile des IFEG in den Vernehmlassungsentwurf fürs Rahmengesetz integriert. Die Artikel 6-10 des Gesetzentwurfs sind jenen des bestehenden IFEG sehr ähnlich, kommen etwas aufgefrischt und mit neuem Wording daher. Aber reicht das, um die Motion korrekt umzusetzen?

Inclusion Handicap schreibt auf Anfrage dazu: «Sowohl die Inklusions-Initiative, wie auch die vom Parlament angenommene Motion zur Modernisierung des IFEG fordern, dass der Bundesrat den Bereich Wohnen grundlegend überarbeitet. Das macht er im Vernehmlassungsentwurf aber keineswegs. Das bestehende Heimgesetz wurde mit lediglich kosmetischen Korrekturen in das Inklusionsgesetz übernommen.»

Kritikpunkt #4: Ungenügende Koordination der eidgenössischen und kantonalen Gesetze

Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Zusammenarbeit von Bund und Kantonen. Menschen mit Behinderungen leben in 26 Kantonen, mit jeweils individuellen Gesetzgebungen. Sie stossen, je nach Lebenssituation, auf grosse Unterschiede, wenn es um die Versorgung mit praktischer Unterstützung im Alltag geht. Mitunter wird ein Umzug in einen anderen Kanton aufgrund rechtlicher oder praktischer Hürden verunmöglicht.

Zwar sieht das neue Gesetz vor, dass jeder Kanton künftig einen Aktionsplan zur Umsetzung der UNO-BRK haben soll. Aber konkrete gemeinsame Ziele mit Fristen sind im Entwurf nicht zu finden. 

«Damit das Inklusionsgesetz nachgebessert wird, müssen sich bis zum 16. Oktober möglichst viele Menschen und Organisationen am Vernehmlassungsverfahren beteiligen. So erhöhen wir die Chancen für ein Inklusionsgesetz, das seinen Namen verdient.»

Iris Hartmann, Geschäftsleiterin Verein für eine inklusive Schweiz

Christoph Fenner ist Leiter der Behindertenhilfe des Kantons Basel-Stadt. Er wünscht sich vom Bund eine Harmonisierung der verschiedenen Finanzströme. Nur so seien Menschen mit Behinderungen wirklich frei, ihren Wohnort zu wählen. Und er hat auch schon konkrete Vorstellungen, wie dies passieren könnte: «Es gibt verschiedene aktuelle Studien von Bund und Kantonen, sowie ausreichend Expertise bei den Kantonen, welche sich seit Jahren mit dieser Thematik beschäftigen. Ich würde mir wünschen, dass die Kantone gemeinsam mit Menschen mit Behinderungen sowie dem Bundesamt für Sozialversicherungen BSV und Institutionsvertretenden, für die Entwicklung des Rahmengesetzes, nicht nur für Alibiaustausche beigezogen werden. Innerhalb dieser Fachgruppen spüre ich einen grossen fachlichen Konsens und damit die Möglichkeit wirklich voranzukommen.» 

Kritikpunkt #5: Persönliche Assistenz wird kaum ausgebaut

Das 2012 eingeführte Assistenzmodell war ein Paradigmenwechsel für Menschen mit Behinderungen. Erstmals können jene, die Zugang zu diesen Leistungen haben, eigene Assistent:innen im Alltag anstellen und so selbstständig wohnen, statt in einer Institution zu leben. Aktuell beziehen rund 5000 der 1,9 Millionen Menschen mit Behinderungen in der Schweiz einen Assistenzbeitrag. Es gibt jedoch nach wie vor grosse Hürden beim Zugang dazu.

Pro Infirmis kritisiert, dass der Gegenvorschlag diese Hürden nicht angeht: Wichtige Anliegen, wie die Ermöglichung von Angehörigenassistenz, höhere Stundensätze für Assistenzpersonen und eine Vereinfachung des Verfahrens fehlen. «Die Ausweitung des Assistenzbeitrages auf Menschen mit eingeschränkter Handlungsfähigkeit ist begrüssenswert. Doch wenn der Assistenzbeitrag selbst nicht verbessert und vereinfacht wird, wird es für diese neue, sowie für bisherige Zielgruppen wirkungslos bleiben», sagt Philipp Schüepp, Leiter Kommunikation, Politik und Strategie bei Pro Infirmis.

Und wie geht es jetzt weiter? Können Menschen mit Behinderungen auf eine Verbesserung nach der Vernehmlassung hoffen?

Iris Hartmann, Geschäftsleiterin beim Verein für eine inklusive Schweiz, Trägerverein der Inklusionsinitiative, sagt dazu: «Damit das Inklusionsgesetz nachgebessert wird, müssen sich bis zum 16. Oktober möglichst viele Menschen und Organisationen am Vernehmlassungsverfahren beteiligen. So erhöhen wir die Chancen für ein Inklusionsgesetz, das seinen Namen verdient.»