
Unsichtbar: Viele Menschen mit ME/CFS sind ans Bett gebunden – die permanente Erschöpfung und Reizempfindlichkeit lassen ein normales Leben nicht zu. Bildnachweis: Reinhard Balzer, Deutsche Gesellschaft für ME/CFS
Meine unsichtbare Freundin, die ich seit sechsundvierzig Jahren kenne, war der Inbegriff einer Powerfrau in einem Job mit Verantwortung für fast hundert Mitarbeiter:innen. Heute aber ist sie nach einer Covid-Erkrankung inklusive Lungenembolie nicht mehr arbeitsfähig. Sie hat Schmerzen am ganzen Körper, ist ständig erschöpft und nervlich am Ende. Der Verdacht ist ME oder CFS oder Long Covid, oder alles zusammen. Seit Jahren wird sie von Test zu Test geschickt, eine eindeutige Diagnose gibt es immer noch nicht, geschweige denn eine wirksame Therapie.
Mittlerweile ist meine unsichtbare Freundin so verzweifelt, dass sie über eine Anmeldung bei EXIT nachdenkt. Ich als Angehörige fühle mich hilflos. Was soll ich ihr Aufmunterndes sagen angesichts ihres Leides? Fachwissen über diese Krankheitsbilder ist in der medizinischen Versorgung in der Schweiz kaum vorhanden. Das führt zu Fehlbehandlungen, die alles verschlimmern.
Vor einem Jahr war meine Freundin in einer psychosomatischen Reha-Klinik. Dort wurde sie falsch behandelt, mit intensiver Aktivierung, so dass es ihr nachher noch schlechter ging als vorher. Kürzlich war sie in der Physiotherapie, dort wurde ein neues Gerät an ihr ausprobiert. Resultat war ein unerträglicher Schmerzzustand am ganzen Körper. Sie konnte tagelang gar nicht mehr aufstehen.
«Vor fünf Jahren machte die ganze Welt wegen der Pandemie die Schotten dicht. Nun, fünf Jahre später, gibt es tausende Menschen in der Schweiz, die schwere Folgeerkrankungen der Infektion - unter anderem ME und CFS - haben. Und wir lassen sie hängen, medizinisch und finanziell. »
Es sind überwiegend Frauen mit diesen Krankheitsbildern. Das führt zu medizinischem Gaslighting. Das sei alles psychosomatisch. Meine unsichtbare Freundin möchte hier nicht mit Namen genannt werden. Sie fürchtet sich vor dem Stigma. Ja, auch das noch: Stigma. Als wäre die Erkrankung nicht schon genug.
Meine unsichtbare Freundin hat Depressionen und Panikattacken, das ist in der Situation, in der sie sich seit drei Jahren befindet, ja naheliegend. Doch ursächlich für ihre vielen körperlichen Symptome sind die Depression und die Angst nicht, sie sind die Folge der körperlichen und finanziellen Belastung.
Der Arbeitgeber hat ihr gekündigt, als sie krank war. Da sie krankgeschrieben ist, kann sie nicht zum RAV, und die Taggeldversicherung läuft bald aus. Den Antrag auf eine IV-Rente hat sie vor Monaten eingereicht, aber die Chancen auf eine Rente stehen schlecht: die IV lehnt die allermeisten Rentengesuche der Long-Covid-Betroffenen ab.
Meine unsichtbare Freundin steht vor dem finanziellen Ruin. Bevor sie Unterstützung durch die Sozialhilfe bekommt, muss sie alles, was sie sich im Leben angespart hat, aufbrauchen.
«Mittlerweile ist meine unsichtbare Freundin so verzweifelt, dass sie über eine Anmeldung bei EXIT nachdenkt.»
Meine unsichtbare Freundin wird die Zusatzversicherung der Krankenkasse kündigen müssen, obwohl genau diese Zusatzversicherung jetzt im Krankheitsfall so nötig wäre. Sie wird umziehen müssen, raus aus der teuren Stadtwohnung, nach irgendwo ausserhalb, wo sie niemanden kennt. Dabei wären die nahen Kontakte gerade jetzt so wichtig!
Vor fünf Jahren machte die ganze Welt wegen der Pandemie die Schotten dicht. Nun, fünf Jahre später, gibt es tausende Menschen in der Schweiz, die schwere Folgeerkrankungen der Infektion - unter anderem ME und CFS - haben. Und wir lassen sie hängen, medizinisch und finanziell.
Genauso geht es auch den Tausenden ME- und CFS-Kranken in der Schweiz, die schon vor der Pandemie erkrankten. Die Fallzahlen sind nach der Pandemie explodiert, statistisch gesehen kennt jede Person in der Schweiz eine Person, die betroffen ist.
Auch darum sind Betroffene und Angehörige wie ich - stellvertretend für die Erkrankten, die keine Kraft hatten, nach Bern zu kommen - zahlreich am 17. Mai 2025 auf dem Bundesplatz zur Kundgebung zusammengekommen: um für mehr Forschung, ein besseres Behandlungsangebot und finanzielle Unterstützung einzustehen. Gemeinsam sichtbar zu werden erfüllte die Teilnehmer:innen mit Hoffnung darauf, dass sich endlich etwas bewegt. Es ist höchste Zeit.
Millions Missing
«Millions Missing» ist eine weltweite Protest- und Aufklärungskampagne, die auf die Situation von Menschen mit ME (Myalgischer Enzephalomyelitis) und CFS (Chronic Fatigue Syndrome) aufmerksam macht. Der Name steht für die Millionen Betroffenen, die aufgrund ihrer Erkrankung unsichtbar im Alltag fehlen – in der Schule, am Arbeitsplatz, im sozialen Leben.
Die Bewegung wurde 2016 von der Organisation MEAction initiiert und findet jährlich rund um den 12. Mai, dem internationalen ME/CFS-Tag, statt. Weltweit organisieren Betroffene und Angehörige Kundgebungen, um politische Massnahmen, mehr Forschung und bessere medizinische Versorgung zu fordern. Die «Millions Missing»-Kundgebung in der Schweiz fand am 17. Mai 2025 auf dem Bundesplatz in Bern statt.
Mehr Informationen: Millions Missing