Das Foto zeigt ein Porträt von Herr Andreas Uebelbacher. Er schaut direkt in die Kamera und lächelt dabei. Er hat einen kurzgeschnittenen Bart und dunkle Haare, die ergraut sind. Er trägt ein hellblaues Hemd an und einen schwarzen Kittel.

Herr Dr. Andreas Uebelbacher, Leiter Dienstleistungen bei der Stiftung «Zugang für alle». Bildnachweis: zVg.

Andreas Uebelbacher, wie ist die Schweiz mit der digitalen Inklusion unterwegs?

Die Stiftung «Zugang für alle» feiert dieses Jahr ihr 25. Jubiläum, und ich selbst bin inzwischen über 12 Jahre bei der Stiftung beschäftigt. Wir hatten lange das Gefühl, dass es nur im Schneckentempo vorwärts geht. Inzwischen kommt mehr Bewegung ins Thema.

Wo steht die Schweiz im Vergleich zur EU jetzt?

Die EU ist auf der regulatorischen Ebene mit dem European Accessibility Act EAA sicher weiter, weil digitale Barrierefreiheit für eine Vielzahl von Angeboten bereits ab Ende Juni 2025 verbindlich ist.

Welche digitalen Angebote im EU-Raum fallen unter diese Richtlinien?

Dazu gibt es eine längere Liste von Angeboten. Wie etwa der Onlinehandel, Terminbuchungen und Kontaktformulare, aber auch online Dienstleistungen wie Bankdienstleistungen. Hinzu kommen auch Geräte wie Computer und Smartphones, mit denen wir die digitalen Angebote nutzen. 

«Leider ist vielen noch nicht bekannt, was digitale Zugänglichkeit beinhaltet. Da staunen wir immer wieder.»

Dr. Andreas Uebelbacher, Leiter Dienstleistungen bei der Stiftung «Zugang für alle»

Welchen Nutzen hat der EAA für die digitale Inklusion in der Schweiz?

Der EAA ist auch für Schweizer Unternehmen verbindlich, die Produkte in der EU vertreiben oder Dienstleistungen in der EU anbieten, selbst wenn diese Vorgaben in der Schweiz nicht gelten. Aufgrund dieser Vorgaben müssen die Verantwortlichen ihre Systeme, etwa einen Webshop, verbessern. So können auch Schweizer Kund:innen von digital barrierefreien Angeboten profitieren. Zudem lenkt der EAA den digitalen Zugang medial und in der Öffentlichkeit stärker in den Fokus, und das ist sicher gut so.

 Warum braucht es mehr Sensibilisierung für die digitale Barrierefreiheit?

Rollstuhlrampen und andere bauliche Anpassungen sind viel augenfälliger. Leider ist vielen noch nicht bekannt, was digitale Zugänglichkeit beinhaltet. Da staunen wir immer wieder. Denn für Menschen mit Behinderungen wäre das ein Riesenschritt in Richtung Inklusion, wenn sie die inzwischen allgegenwärtigen und zunehmend wichtigeren digitalen Angebote einfach ganz natürlich und ohne unnötige Barrieren nutzen könnten. 

Dem ist nicht so?

Wir von der Stiftung «Zugang für alle» testen ja laufend digitale Angebote, ob es Websites, Mobile Apps oder digitale Dokumente sind. Und dabei stossen wir regelmässig auf sehr viele Barrieren. Viele Betriebe und Organisationen sind sich nicht bewusst, wie unzugänglich ihre Apps und Webseiten für Menschen mit einer Behinderung sind. Zwar müssen Webseiten von öffentlichen Stellen zugänglich sein. Doch auch dort finden sich noch zu viele Barrieren.  

«Und dabei (bei Webseiten, mobilen Apps und digitalen Dokumenten) finden wir regelmässig sehr viele Barrieren. Viele Betriebe und Organisationen sind sich nicht bewusst, wie unzugänglich ihre Apps und Webseiten für Menschen mit einer Behinderung sind.»

Dr. Andreas Uebelbacher, Leiter Dienstleistungen bei der Stiftung «Zugang für alle»

Und diese Barrieren können zunehmen?  

Ja, weil sich immer mehr Aktivitäten in den digitalen Bereich verlagern, ob es um Kommunikation, Bankgeschäfte, Ticketkauf, Shopping und vieles mehr. geht. Wenn diese neuen Wege nicht zugänglich sind, dann entsteht zusätzliche Exklusion und Ausgrenzung, also das Gegenteil von dem, was man möchte.

Was sollte anders sein?

Die entsprechenden Richtlinien sollten gründlich und sorgfältig beachtet werden bei der Gestaltung von Angeboten. Diese sogenannten WCAG (Web Content Accessibility Guidelines), gibt es bereits seit vielen Jahren. Bei entsprechend gestalteten Angeboten kann man als Nutzer:in entscheiden, wie man sich Inhalte ausgeben lassen möchte. Etwa stark vergrössert, mit invertierten Farben, auf dem Audio-Kanal statt visuell, mit informativen Tonspuren als Untertitelung oder Transkription.

«Von alleine werden die digitalen Inhalte nicht barrierefrei, und jeder Relaunch, bei dem die Barrierefreiheit nicht ‹mitgenommen› wird, ist eine verpasste Chance.»

Dr. Andreas Uebelbacher, Leiter Dienstleistungen bei der Stiftung «Zugang für alle»

Die digitale Inklusion kann bestehende Barrieren kompensieren. Wie genau?

Dass ich mir einen Behördengang oder das Einkaufen gehen ganz sparen und es online von zu Hause erledigen kann. Das ist zwar für alle sehr bequem. Aber das Potential digitaler Angebote ist gerade bei der Inklusion enorm. Denn Menschen mit ganz unterschiedlichen Behinderungen würden ein zugänglicheres Arbeitsumfeld antreffen und hätten weitaus bessere Chancen auf eine Stelle. Sie könnten viel stärker am öffentlichen Leben, wie der Kultur und Politik, teilnehmen. Digitale Angebote kommen besonders auch jenen zugute, die aufgrund einer Behinderung die offline-Variante bisher nicht selbständig nutzen konnten. Menschen mit Behinderungen hätten mehr Selbstbestimmung und Selbständigkeit als bisher.

Welchen Gewinn hätte die Schweiz noch von einer fortschrittlichen digitalen Inklusion?  

Sie ist eine Investition ins digitale Basis-Know-how der Schweizerischen Arbeitskräfte und führt zu einer deutlichen Professionalisierung der Digitalbranche, stärkt damit auch Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft Schweizer Unternehmen.

Die digitale Inklusion ist für Menschen mit Behinderungen, die Allgemeinheit und die Wirtschaft vielversprechend. Warum ist die Schweiz damit nicht bereits weiter?

Die Anbieter digitaler Inhalte wissen immer noch zu wenig, wie sie selbst feststellen können, ob eine Website barrierefrei ist, oder worauf sie achten müssen, wenn sie digitale Inhalte in den verschiedenen Formaten erstellen. Das betrifft die Entwicklung, das Design, wie auch die Erstellung von Inhalten. Und das ist nicht von Anfang an in die Prozesse integriert, mit denen Organisationen arbeiten. Hinzu kommt, dass die digitale Barrierefreiheit nicht ganz einfach ist. Man muss sich mit den Richtlinien und Anforderungen auseinandersetzen, was keine «leichte Kost» ist. Dazu muss man sich Fachwissen erarbeiten.

«Wer digitale Angebote nicht barrierefrei gestaltet, schliesst viele potenzielle Kund:innen mit einer Betroffenheit aktiv aus.»

Dr. Andreas Uebelbacher, Leiter Dienstleistungen bei der Stiftung «Zugang für alle»

Dieses Fachwissen fehlt in den Ausbildungen? 

Ja. Die Bildungsinstitutionen müssen fortschrittlicher werden und diese Inhalte in ihre Angebote aufnehmen. Als natürlichen Teil der Vermittlung von Design, Entwicklung, Content-Erstellung. Das passiert noch zu wenig. Und dieser Wissensnotstand plagt die Unternehmen immer wieder, die die Barrierefreiheit möglichst umsetzen wollen. Darüber hinaus muss die Politik auch die Professionalität im digitalen Bereich aktiv fördern.

Gehen wir zurück zur EU: Wie kommt es, dass bei der digitalen Barrierefreiheit die EU progressiver ist als die Schweiz?

In der EU galten schon früh klare Vorgaben für die digitale Barrierefreiheit. Zudem sind auch Betroffenen-Organisationen in der EU teilweise eine stärkere Lobby als in der Schweiz. Darüber hinaus wird die digitale Inklusion in der EU härter eingefordert, mit entsprechenden Klagemöglichkeiten, die es in der Schweiz bislang nicht gibt. 

Die Anforderungen des EAA gelten ab 28. Juni 2025. Was ist davon zu erwarten? 

Inwiefern das geschriebene Gesetz in der EU wie auch in der Schweiz gelebt werden wird, wird sich zeigen. Ebenso ob die Ressourcen ausreichen und das Know-how bereitgestellt wird, um das Gesetz wirklich umzusetzen.

Wie sieht es in der EU mit den Ressourcen aus?

Zum Teil besser. Im nahen Ausland gibt es seit vielen Jahren umfangreiche Subventionierungen, während sich in der Schweiz eine private Stiftung wie «Zugang für alle» seit 25 Jahren selbst tragen muss.

Welche Folgen haben solche Unterschiede bei der Subventionierung für die Schweiz?

Diese hochsubventionierten Organisationen treten inzwischen in der Schweiz als Konkurrenz zu uns in Erscheinung. In diesem Bereich die inländische Expertise aufzubauen und zu erhalten, wird anspruchsvoller. Schweizer Know-how bietet den klaren Vorteil, dass unsere Lösungen passgenau auf die hiesigen Gegebenheiten zugeschnitten sind, da sich die Anforderungen und Bedürfnisse nicht immer mit denen in anderen europäischen Ländern decken.

«Denn digitale Inklusion ist nicht nur eine technische, sondern eine grundlegende gesellschaftliche Frage – sie steht für Teilhabe, Demokratie und Respekt gegenüber Vielfalt.»

Dr. Andreas Uebelbacher, Leiter Dienstleistungen bei der Stiftung «Zugang für alle»

Inzwischen ist im Parlament die Teilrevision des Behindertengleichstellungsgesetzes BehiG weitergekommen. Sie enthält auch Bestimmungen zur digitalen Inklusion. 

Ja, voraussichtlich steigt die Verbindlichkeit in der Schweiz ab 2027 deutlich, auch für privatwirtschaftliche Anbieter:innen. Das wird sicher dazu führen, dass die digitale Barrierefreiheit verstärkt berücksichtigt wird.

Mit Blick auf die Revision des BehiG müssen sich die Unternehmen bereits jetzt vermehrt mit der digitalen Barrierefreiheit befassen.

Richtig. Denn der regulatorische Druck steigt. Von alleine werden die digitalen Inhalte nicht barrierefrei, und jeder Relaunch, bei dem die Barrierefreiheit nicht «mitgenommen» wird, ist eine verpasste Chance.

Was passiert, wenn eine solche Chance verpasst wird?

Wenn Barrierefreiheit erst nachträglich umgesetzt werden muss, kann es später unnötig teuer werden. Die Kosten entstehen dabei nicht nur durch nachträgliche technische Anpassungen, sondern auch durch wirtschaftliche Einbussen. Wer digitale Angebote nicht barrierefrei gestaltet, schliesst viele potenzielle Kund:innen mit einer Betroffenheit aktiv aus. Das betrifft rund 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung. Und der demografische Wandel verschärft diese Entwicklung, denn auch ältere Menschen haben zunehmend vergleichbare Anforderungen an den barrierefreien Zugang zu digitalen Informationen. Wer kann es sich heute noch leisten, auf so grosse Nutzergruppen zu verzichten?

Welche Hoffnungen und Befürchtungen haben Sie im Zusammenhang mit der digitalen Inklusion?

Das Thema digitale Inklusion ist wichtiger denn je. Gerade jetzt, da einzelne wichtige Länder in der Welt bei den Grundwerten den Rückwärtsgang eingelegt haben, und internationale Grosskonzerne auch im digitalen Bereich diesen Wertezerfall mittragen. Deshalb hoffe ich, dass sich die Schweiz klar zur digitalen Barrierefreiheit bekennt, an den Fortschritten der EU orientiert bleibt und nicht ins Hintertreffen gerät. Denn digitale Inklusion ist nicht nur eine technische, sondern eine grundlegende gesellschaftliche Frage – sie steht für Teilhabe, Demokratie und Respekt gegenüber Vielfalt.