
Die Schweigeminute für Opfer von Suizid war ein besonders berührender Moment der Kundgebung.
Am Anfang der Kundgebung waren es einige hundert, im Laufe des Nachmittags wuchs die Zahl der Demonstrierenden auf 5000 an. Sie alle waren am Samstag, 16.8. gekommen, um auf die Versorgungskrise in der Psychiatrie aufmerksam zu machen und dazu aufzurufen, diese zu stoppen.
Auf dem Flyer, den die Veranstalter:innen an der Kundgebung verteilten, wurde auf die langen Wartezeiten aufmerksam gemacht, auf Absagen trotz Notlagen und auf Zweiklassenmedizin. Die Forderungen lauteten: Adäquate Tarife, weniger Bürokratie, bezahlbare Ausbildungsplätze, bessere Arbeitsbedingungen und Solidarität mit Betroffenen. Es wurde dazu aufgerufen, gemeinsam Druck zu machen, um die Chancengleichheit zu verbessern und ein funktionierendes Gesundheitssystem zu etablieren.
Anfangs 2025 hatten sich mehrere Verbände zusammengeschlossen, politische Parteien sowie Organisationen und Gewerkschaften, um diesen Tag ins Leben zu rufen. Zu den Vertreter:innen gehörten: VPOD, Vereinigung klinischer Psychologen, Pro Mente Sana, Pro Juventute, Pro Infirmis, diverse Patienten-Stellen, SP, JUSO, Grüne Schweiz, die Grünliberale Partei, Pink Cross, Lesbenorganisation der Schweiz, die LGBTIQ Helpline.
Auf ihren Transparenten und in ihren Voten äusserten die Demonstrierenden ihre Wünsche und Forderungen, wie mehr Solidarität, weniger Wartezeiten, mehr Zeit für den Patient:innen, mehr Therapieplätze für Kinder und Jugendliche, angepasste Löhne, weniger Bürokratie ab 15 Therapiestunden, mehr Ausbildungsplätze. Immer wieder war der Satz zu hören: «Es gibt keine Gesundheit ohne Psychische Gesundheit.» Entsprechend sei psychische Gesundheit systemrelevant und die notwendigen Investitionen seien zwingend.
Viele junge Menschen waren vor Ort
Die Anwesenden waren eine bunt gemischte Gruppe: Betroffene aus allen Altersgruppen, Angehörige, Sympathisant:innen, Pflegende aus der Care Arbeit, Peers, Psycholog:innen, Psychotherapeut:innen, Psychiater:innen. Auffallend viele junge Menschen waren vor Ort. Gemeinsam machten sie sich stark für eine bessere psychotherapeutische Versorgung in der Schweiz.
«Täglich hören wir in Gesprächen von Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen von den langen Wartelisten für Termine bei Therapeut:innen, von der Unterversorgung in ländlichen Regionen, vom Fachpersonalmangel.»
Die Teilnehmer:innen der bewilligten Kundgebung spazierten vom Waisenhausplatz durch die Berner Altstadt und machten immer wieder Halt, um ihre Anliegen zu skandieren: «Therapie statt Bürokratie», «Therapie darf kein Luxus sein», «faire Tarife». Beim Rathaus, in der Kramgasse und auf dem Bundesplatz folgte Rede auf Rede. Politiker:innen, Betroffene und Therapeut:innen äusserten sich gleichermassen. Auch auf Französisch und Italienische wurden Statements abgegeben.
Auf Anfrage bestätigt Nadia Pernollet von Pro Mente Sana, wie prekär die Lage sei. «Täglich hören wir in Gesprächen von Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen von den langen Wartelisten für Termine bei Therapeut:innen, von der Unterversorgung in ländlichen Regionen, vom Fachpersonalmangel», sagt sie. Vor allem Kinder und Jugendliche, sowie Menschen mit komplexeren psychischen Erkrankungen würden den Fachkräftemangel zu spüren bekommen. «Sie finden kaum passende Psychotherapeut:innen und auch für stationäre Therapie gibt es Wartezeiten.» Insgesamt sei der ambulante Bereich stärker betroffen als der stationäre.
Laut Nadia Pernollet verschärfen sozioökonomische Aspekte den Zugang zur Psychotherapie. «Migrant:innen, Flüchtlinge und Menschen mit wenig finanziellen Möglichkeiten sind besonders betroffen.» Wirtschaftlich bedingte hoch gewählte Franchisen bedeuteten eine grosse Hürde, um sich bei Problemen Unterstützung zu holen.
Ein besonders kritischer Moment sei auch die Entlassung aus der Klinik. Plötzlich stünden Betroffene wieder im belastenden Alltag – oft ohne ein Netz aus ambulanter Unterstützung. «Werden Patient:innen sich selbst überlassen und finden keine Anschlusslösung, kommt es oft zu Rückfällen und erneuten stationären Aufenthalten», so Nadia Pernollet. Hausbehandlungen mit mobilen Angeboten oder psychiatrischer Spitex, sowie weitere niederschwellige ambulante Angebote seien zu wenig flächendeckend etabliert und finanziert. Pro Mente Sana sieht dort einen grossen Handlungsbedarf.
Gründe für fehlendes Fachpersonal sind vielschichtig
In den Reden an der Kundgebung wurden Gründe für den Personalmangel in der Psychotherapie thematisiert. So seien der Verdienst tief und die Möglichkeiten, irgendwann mehr zu verdienen, gering. Gleichzeitig seien die Aufgaben komplex, man trage viel Verantwortung und müsse Schicht arbeiten. Rekrutierungen im Ausland seien zwar möglich, aber Sprachbarrieren und mangelnde fachliche Kompetenz und Anerkennung stellten ein grosses Problem dar. Es fiel der Satz: «Wenn Fachkompetenz fehlt, leidet wieder die Therapie.»
«Werden Patient:innen nach einem Klinikaufenthalt sich selbst überlassen und finden keine Anschlusslösung, kommt es oft zu Rückfällen und erneuten stationären Aufenthalten.»
Eine Betroffene erzählte, wie schwierig es für Patient:innen sei, einen sicheren und geeigneten Therapieplatz zu finden. Wie zermürbend die langen Wartelisten und vielen Absagen seien. Habe man endlich einen Therapieplatz gefunden, müsse auch noch das Zwischenmenschliche passen. «Denn ohne Vertrauen kann die Therapie nicht gelingen.» Zudem brächte nicht jede Therapeutin oder jeder Therapeut die Spezialisierung mit, welche die Patientin oder der Patient brauchen würde.
Ein besonders berührender Moment an der Kundgebung war die Schweigeminute für Menschen, die Suizid begangen haben. Um 15.30 Uhr setzten sich alle Teilnehmer:innen der Kundgebung in der Kramgasse hin und gedachten ihnen. In der Schweiz begehen jedes Jahr 1000 Menschen Suizid. Vor der Schweigeminute nannten Redner:innen diese Zahl und sagten, Todesfälle durch Suizid seien nur die Spitze des Eisbergs. Die Anzahl der Menschen, die dies aufgrund eines psychischen Leidensdrucks erwägten oder versuchten, sei noch viel höher. Um 17.30 Uhr kam die Kundgebung auf dem Bundesplatz zu einem Ende und die vielen Besucher:innen strömten wieder nach Hause.
In ihrer Mitteilung an die Presse kommunzierte die Mediengruppe «Psychische Gesundheit Schweiz» nach der Kundgebung noch folgende Zahlen: Laut einer aktuellen Umfrage unter 497 Psychotherapeut:innen berichtenten 18 Prozent von Wartezeiten über drei Monate, 12 Prozent sogar von solchen über sechs Monate. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie sei die Lage besonders dramatisch. In der Mitteilung hiess es weiter: «Unser Protest richtet sich gegen monatelange Wartezeiten, überlastetes Fachpersonal, unzumutbare Hürden im Zugang zur Psychotherapie – und gegen den anhaltenden finanziellen Druck durch tiefe Tarife, vielfach unzumutbare Einstiegslöhne und zu hohe Ausbildungskosten.»
Pro Mente Sana
Die Schweizerische Stiftung Pro Mente Sana ist die Fachorganisation für psychische Gesundheit. Sie bietet kostenlose und niederschwellige Beratung für Betroffene, Angehörige und Fachpersonen an und unterstützt bei psychosozialen und rechtlichen Fragen rund um die psychische Gesundheit. Zudem engagiert die Stiftung sich in der Früherkennung, der Ersten Hilfe für psychische Gesundheit sowie genesungsorientierten Projekten und Angeboten. Darüber hinaus setzt sich Pro Mente Sana aktiv für die Sensibilisierungs- und Öffentlichkeitsarbeit ein (wie beispielsweise mit der «Wie geht’s dir?»-Kampagne) und engagiert sich in der politischen Arbeit. Mehr über die Stiftung, ihr Engagement sowie News zu ihren Aktivitäten finden sich auf www.promentesana.ch