
Das Bühnenbild ist schlicht aber eindrucksvoll. Bildquelle: auawirleben
Sergi Casero Nieto aus Barcelona tat das im Theater Tojo in Bern Ende Mai mit seiner Performance «Pacto del Olvido». Als «Pakt des Vergessens» wird das spanische Amnestiegesetz von 1977 bezeichnet. Alle Geschehnisse zwischen 1936 und 1977, während des spanischen Bürgerkriegs und der darauffolgenden Diktatur des «Generalissimus» Franco, sollten staatlich verordnet vergessen werden. Was folgte, waren vierzig Jahre kollektiver Amnesie. In dieser Zeit ist Casero aufgewachsen.
Casero schuf seine Solo-Performance im Jahr 2022. In diesem Jahr lancierte die Regierung der Linksparteien unter Ministerpräsident Sanchez das Gesetz der demokratischen Erinnerung. Tausende Tote wurden exhumiert, Opfer rehabilitiert, Strassen von faschistischen Namen befreit, das Mausoleum von Franco aufgelöst, der Nazigruss und die Verherrlichung des Faschismus verboten.
Gekleidet in einen schwarzen Arbeiter-Overall steht Casero allein auf der kargen Bühne. Scheinwerfer, eine Tischlampe, von der Decke hängende Glühbirnen leuchten abwechselnd die Schattenzonen der Bühne aus. Ein alter Stuhl im Spotlicht repräsentiert seine Grossmutter. Auf einem Hellraumprojektor zeigt er Fotos und arrangiert seiner Performance folgend alte Fotos, Spielzeugsoldaten und rote Nelken.
Beklemmend verwebt Casero eigene Kindheitserinnerungen mit Gedichten, Zitaten, und Liedern zu dem düsteren Teppich, unter den alles gekehrt wurde, woran sich niemand erinnern soll: die 500'000 Gefallenen des Bürgerkriegs; die 140'000 Vermissten aus der Zeit der Diktatur; die 80'000 entführten Kinder. Er zitiert einen Politiker von 1977, der sagte, um die erneute Spaltung des Landes zu verhindern, brauche Spanien ein «Vergessen von Allem, von Allen, für Alle».
Vergessen werden sollten auch die Massengräber überall im Land. Es sind Sätze wie dieser aus dem Off, die unter die Haut gehen:
«Spanien ist nach Kambodscha das Land mit den meisten ungeöffneten Massengräbern.»
Casero erzählt vom Versuch, von seiner Grossmutter mehr über die damalige Zeit zu erfahren. Der Versuch scheitert. «Ich hatte ein ganz normales Leben», sagt sie ihm, und er, ihr Schatz, solle sich nicht mit Politik befassen, das schade ihm nur. Der Rest ist Schweigen. Casero assoziiert dazu die spanische Nationalhymne, die keinen Text hat. Er fragt: «Haben wir nichts zu sagen, oder schweigen wir zu viel?»
Mit einem Hellraumprojektor stellt er eine fiktive Schulstunde dar. Anhand einer Seite eines Geschichtsbuchs von 2009 über den Bürgerkrieg, das voller Verharmlosung des Schreckens ist, sollen die Schüler:innen lernen, die richtigen Fragen zu stellen:
«Eltern, wo wart ihr damals? Wart Ihr Täter oder Opfer?»
Unangenehme Fragen möchte Casero auch seiner eigenen Mutter stellen, denn sein Grossvater hatte auf der Seite der Faschisten im Bürgerkrieg gekämpft. Doch gefragt habe er sie nie, erzählt er. Warum nicht, könne er auch nicht sagen. Es gehe einfach nicht.
Zur Jahrtausendwende begannen Familien in ganz Spanien auf eigene Faust nach ihren Toten zu suchen. Casero erzählt von einem Spaziergang an den Strand mit den Grosseltern, wo er Zeuge einer solchen Exhumierung wird:
Neben einem Laternenpfahl wird gegraben.
«Hier hat jemand sein Leben unter der Erde verbracht», bemerkt ein Passant. Eine Frau steht da und weint leise. Und ein anderer fleht: «Bitte verzeiht mir, es tut mir so leid.» Schweigend gehen die Grosseltern daran vorbei.
Die Performance ist zu Ende. Zurück bleiben Fragen ohne Antworten.

Sergi Casero steht selber auf der Bühne. Bildquelle: Roberta Segata
Caseros Stück ist beängstigend aktuell, denn vor just einem Monat gewannen die Rechts-Parteien in fünf kastilischen Regionen die spanischen Regionalwahlen. Dort erhalten jetzt Strassen wieder ihre alten faschistischen Namen, Exhumierungen werden nicht mehr finanziert, der Geschichtsunterricht wird auf Verharmlosung zurückgesetzt. Die kollektive Amnesie ist zurück. Und mit ihr die Spaltung des Landes, die das Amnestiegesetz von 1977 eigentlich verhindern wollte.