
Susanne Schneider, künstlerische Leiterin von BewegGrund. Bildnachweis: zVg.
Als Erste:r tritt NoAnger auf. Was hat BewegGrund dazu bewogen, NoAnger ans diesjährige Festival einzuladen?
NoAnger hat uns alle mit dem aussergewöhnlichen Stück beeindruckt. Es ist eine sehr persönliche Auseinandersetzung mit der Figur des Glöckners von Notre-Dame und es verbindet Text und Bewegung auf einzigartige Weise.
Die Künstlerperson NoAnger sucht in «Quasimodo aux miroirs» den Weg zur Identität. NoAnger bezeichnet sich als Crip-Bodymind. Was ist damit gemeint?
Crip ist eine Umdeutung des Wortes «Krüppel» und Bodymind steht für die untrennbare Einheit von Körper und Geist. Somit beschreibt der Begriff Crip-Bodymind eine inklusive und selbstbestimmte Perspektive auf Behinderungen.
Eine weitere inklusive Perspektive hören und sehen wir bei «Lived Fiction» von StopGap Dance Company. Bei dieser Gruppe soll der Tanz radikal barrierefrei sein. Wie kann ich mir das vorstellen?
Das Stück verbindet in künstlerischer Weise eine offene, für alle hörbare Audiodeskription, die Übertitelung von allen Textteilen und Elemente von Gebärdensprache.
Diese barrierefreien Zugänge sind also Teil des Stücks?
Genau. Dass die Zugänglichkeit für Menschen mit unterschiedlichen Voraussetzungen schon bei der Kreation mitgedacht wird und zu einem kreativen Mittel wird, ist eine relativ neue Entwicklung in der inklusiven Kunst, die sich ‹aesthetics of access› nennt. Für alle Zuschauenden entsteht ein neuartiges Erlebnis einer Vorstellung, die alle Sinne anspricht und niemanden ausschliesst.
«Für alle Zuschauenden entsteht mit der inklusiven Kunst, der ‘aesthetics of access’, ein neuartiges Erlebnis einer Vorstellung, die alle Sinne anspricht und niemanden ausschliesst.»
A propos alle mit einbeziehen: Nach «Röllele Hot! Hot! Hot!» gibt es eine Rollstuhl-Schuh-Disco für alle. Man könne Rollschuhe mitbringen oder mieten, aber auch ohne dabei sein. Wie ist die Idee für eine solche Disco entstanden?
Das Theater Frei_Raum und die Heitere Fahne, die dieses Stück kreiert haben, sind ein Ort, an dem unterschiedlichste Menschen zusammenkommen, feiern und ihre Träume verwirklichen. Im Anschluss zur Show lädt die Rollschuh-Stuhl-Disco genau dazu ein – zusammen zu feiern und Träume zu leben.
Demzufolge schmücken abwechslungsreiche Tanzperformances das Festival-Programm. Wer hat es gestaltet?
BewegGrund arbeitet seit einigen Jahren beim Festival mit den Partnerfestivals wildwuchs in Basel, Out of the box in Genf und Orme in Lugano zusammen, zudem mit dem Förder- und Netzwerkprojekt ‹disframe› des Migros-Kulturprozent. Für diese Festivalausgaben gab es zum ersten Mal eine Jury von Spezialist:innen mit Behinderungen, die die Stücke auswählten. Für Bern wählten sie «Quasimodo» von NoAnger und «Lived Fiction» von StopGap Dance Company.
Zur neuen Jury kommt hinzu, dass BewegGrund die Barrierefreiheit erweitert hat. Der Verein bietet bei fast allen Aufführungen Übersetzung in Gebärdensprache, mehr Audiodeskription und Übertitel. Wie kommt es, dass BewegGrund die Barrierefreiheit so ausbaut?
Zugänglichkeit ist für uns eine Notwendigkeit. Wir setzen uns seit mehr als 25 Jahren für das gemeinsame Tanzen von Menschen mit und ohne Behinderungen ein. In unserer Arbeit richten wir uns nach dem Artikel 20 der UNO-Behindertenrechtskonvention. Darin steht, dass alle Menschen das Recht haben, an Kultur teilzuhaben und ihr kreatives, künstlerisches und intellektuelles Potenzial zu entfalten.
Ihr steht auch für die Barrierefreiheit für andere Menschengruppen, nicht nur für Menschen mit Behinderungen. Denn man darf einen Gast mitbringen, sei es zu einer Show in der Heiteren Fahne oder in der Dampfzentrale.
Ja, denn finanzielle Barrieren können einen Vorstellungsbesuch ebenfalls verhindern. Durch die Aktion ‘Bring a friend’ und die Möglichkeit, die Kulturlegi einzusetzen, sollen auch Menschen mit einem kleinen Budget unsere Vorstellungen besuchen können. Auch dies bedeutet Zugänglichkeit – wir wollen niemanden ausschliessen auf Grund von unterschiedlichen Voraussetzungen.
«Zugänglichkeit ist für uns eine Notwendigkeit. Wir setzen uns seit mehr als 25 Jahren für das gemeinsame Tanzen von Menschen mit und ohne Behinderungen ein.»
Zurück zu eurer Arbeit: Einiges an Zugänglichkeit hat sich in den letzten Jahren verbessert, und dennoch ist sie immer noch keine Selbstverständlichkeit. Zum Beispiel auf den Bühnen.
Für mehr Diversität in der Kunst sind all diese Fragen wichtig: Wer ist auf der Bühne zu sehen, wer programmiert Festivals und Programme in Kulturhäusern, wer hat Zugang zu Ausbildungen? Mehr Diversität ist nur erreichbar, wenn der Zugang zu Ausbildungen und dem Kulturbetrieb für alle selbstverständlicher wird und nicht in jedem einzelnen Fall erstritten werden muss.
Oskar Spatz’ Auftritt mit «Besser den Spatz in der Hand als … okay, scheiss drauf, ich mach’ das jetzt anders!» ist ein Höhepunkt. Doch sein Weg bis dahin war lang.
Tanzbar_bremen, bei der Oskar Spatz tanzt, und BewegGrund stehen seit vielen Jahren in regelmässigem Austausch. Gegenseitige Unterrichtsbesuche, Auftritte an Festivals und zwei gemeinsame Produktionen verbinden uns. Von daher kenne ich Oskar Spatz seit vielen Jahren und durfte seinen Weg vom ‘Tanz-Lehrling’ zum selbstbewussten Tänzer und Lehrer miterleben. Sein Solo ist sehr persönlich, ehrlich und berührend. Die Entscheidung, ein Solo zu machen, hat Spatz selber gefällt und dank dem Team von tanzbar_bremen auch umsetzen können.
Die Schwelle ist also immer noch hoch, dass Menschen mit Behinderungen ihre künstlerischen Potentiale entfalten.
Deshalb bieten wir in jeder Festivalausgabe einen Workshop mit einer oder einem auftretenden Künstler:in an, weil sich dadurch eine weitere Ebene der Begegnung für tanzinteressierte Menschen eröffnet. In diesem Festival ist ein Workshop mit NoAnger für alle Interessierte mit und ohne Behinderungen Teil des Programms.
Zudem organisiert BewegGrund auch sonst regelmässig Workshops und Trainings – ein wichtiger Teil unserer Arbeit.
«Mehr Diversität ist nur erreichbar, wenn der Zugang zu Ausbildungen und dem Kulturbetrieb für alle selbstverständlicher wird und nicht in jedem einzelnen Fall erstritten werden muss.»
Ist so aus eurer Arbeit das Stück «Das isch Musig!» enstanden? Eure Tänzer:innen haben am Samstag, 31. Mai und am Sonntag, 1. Juni eine Kurzaufführung, neben weiteren Community Dance Gruppen.
Genau. Über die Workshops und die Trainings kommen viele Tanzinteressierte oftmals mit uns und dem inklusiven Tanz in Berührung. In einem nächsten Schritt kann jemand vielleicht in einem Projekt mit der Performancegruppe oder in einem professionellen Stück der Compagnie BewegGrund mitmachen. ‘Learning on the job’ ist für viele Künstler:innen mit Behinderungen der Weg auf die Bühne.
Werdet ihr dabei unterstützt?
Seit vielen Jahren laden wir immer wieder andere Choreograf:innen ein, um mit unserer Amateur:innen-Gruppe, der BewegGrund Performancegruppe, zu arbeiten. Im letzten Jahr erarbeitete die englische, in Bern lebende Choreografin, Vanessa Cook mit der Gruppe das 30-minütige Stück «Das isch Musig!». Aufgeführt wurde es im November in der Heitere Fahne. Nun zeigen wir im Rahmen des Kurzstückprogrammes einen 12-minütigen Ausschnitt daraus mit 14 Tänzer:innen unterschiedlichsten Alters und mit unterschiedlichen Voraussetzungen. Persönliche Erinnerungen, die mit Musikstücken verbunden sind, bilden das Herzstück von «Das isch Musig!».
BewegGrund.Das Festival 2025
Die 14. Festival-Ausgabe von BewegGrund dauert vom 24. Mai bis 01. Juni 2025. Informationen dazu sind auf BewegGrund.Das Festival 2025 - BewegGrund