
In «Quasimodo aux Miroirs» hinterfragt No Anger mit intensiver Körperpräsenz gesellschaftliche Vorstellungen von Schönheit, Scham und Behinderung. Bildnachweis: Hervé Véronèse.
«Behinderung. Es ist eine leere Hülle, ein Wort, das jeglicher Bedeutung beraubt ist. Man füllt es mit Tragik, Verfluchung, manchmal sogar mit Todesurteilen.»
Die in den 90er Jahren geborene französische Kunstperson No Anger doktorierte 2019 in Politikwissenschaften. An der Schnittstelle von Kunst, Sozialwissenschaft und Aktivismus – umgesetzt in Videokunst, Performancekunst und Schreiben - wählt No Anger den Tanz als Mittel, stereotype Körperbilder herauszufordern.
«Auf dem Boden liegend oder auf dem Boden kriechend, widerspricht der Körper den gängigen Bildern von Anstand, Macht und Gesundheit. Denn der Boden ist der Raum der Unsittlichkeit, der Unanständigkeit.»
No Anger tritt auf in schwarzen Leggins und schwarzem Pulli mit Rollkragen, der Körper zierlich und feingliedrig, der Kopf mit streichholzkurzen schwarzen Haaren. Das existenzialistische Outfit zusammen mit dem ausdrucksstarken Gesicht erinnert an Audrey Hepburn im Film «Funny Face», die im Pariser Jazzkeller tanzt.
Auf der Leinwand läuft der Text von No Anger, gesprochen in Französisch und hervorragend übersetzt auf Deutsch, der alle ihre Erfahrungen und Überlegungen poetisch schildert. Als Auftakt befiehlt sie uns, dem Publikum:
«Schaut meinen Körper an! Schaut mich an!»
Wir sollen also das tun, was man uns wohlmeinend aberzogen hat, weil es «unhöflich» ist: Menschen mit Behinderungen anschauen, nicht nur kurz, sondern eine Stunde lang ihren Körper von allen Seiten her offen und neugierig betrachten, erkunden, erfahren.
No Anger nimmt uns mit in ihre Kindheit, führt uns in ihr Kinderzimmer, wo sie aus Lego Duplo einen Riesen baut, ihren imaginären Begleiter, mit dem sie die Welt erkunden will. Ihre Kindheit ist durchflochten mit jährlich neuen Disney-Filmen, mit Mädchen so sanft, mit Jungs so stark, alle körperlich so perfekt. Darin findet No Anger sich nicht.

Mit jeder Bewegung erzählt No Anger eine Geschichte von Verletzlichkeit und Widerstandskraft. In «Quasimodo aux Miroirs» wird der Körper zum Ausdrucksmittel politischer und persönlicher Erfahrung. Bildnachweis: Hervé Véronèse.
Dann die Begegnung mit dem Disney-Quasimodo: endlich jemand nicht-Konformes. Aber Quasimodo sagt: «Ich bin ein Monster.» Das Kind No Anger kann kein Monster in ihm sehen. Monster haben für sie spitze Zähne und Hörner und machen Angst. Aber wenn er ein Monster ist, ist sie dann selbst auch eins?
«Es ist der Glaube, ein Monster zu sein, auf das man mit dem Finger zeigt und mit dem Kinn deutet. Ein Glaube, der sich in mir eingenistet hat.»
Im gesellschaftlichen Zerrspiegel erscheint No Anger als hässlicher, ausgestossener Quasimodo. Die Verzerrung deformiert ihre Selbstwerdung. Im Verlauf ihrer Jugend entdeckt sie noch andere «Monstruositäten» an sich: ihr asiatisches Aussehen. Und ihr Lesbisch-Sein.
«Ich muss mir meine eigene Erotik erschaffen, fernab jeglicher Schemata und Deutungsmuster, die nicht in der Lage sind, von mir zu sprechen.»
In ihrem Paartanz mit Esmeralda, die auf der Videoleinwand erscheint, wagt No Anger es, ihr Begehren zu zeigen, der Scham und Ablehnung zu trotzen. Entgegen den gesellschaftlichen Erwartungen fordert sie die Freiheit ein, ihre Sexualität zu leben, obwohl Sexualität für sie aufgrund der körperlichen Behinderung tabuisiert ist. Sie will alles. Provokativ und kompromisslos.
«Jedenfalls prophezeit man mir ein Leben in Einsamkeit. Ich sehe das nicht so. Ich will hoffen, immer und immer wieder. Ich will diese Prophezeiungen immer und immer wieder Lügen strafen.»
So, wie der soziale Spiegel sie und ihren Körper zeigt, ist alles falsch. Sie muss ihren sozialen Körper dekonstruieren. Im Tanz zerlegt No Anger ihren Körper in seine körperlichen und sozialen Einzelteile, löst ihn auf, jede Gliedmasse bis zu den Eingeweiden. So tut es auch das Kind No Anger mit dem Riesen aus Legosteinen. Zerlegt ihn und wirft alle Steine weg.
«Ich bin kein trauriger und unästhetischer Körper; ich bin ein fröhlicher Körper, der sich in einer anderen Ästhetik zähmen lässt.»
In einem Tanz-Akt der Selbstwerdung fügt No Anger den Lego-Riesen neu zusammen, und sie erkennt: Sie ist nicht Quasimodo, sondern sie selbst ist der Riese.
Langgestreckt wie ein Schilfrohr wächst sie im Schlussbild über sich hinaus, berührt den Himmel wie es Quasimodo auf den Turmspitzen der Notre-Dame-Kirche tut. Unangepasst. Nicht konform. Aber nun fühlt es sich richtig an.
«Es gibt nichts Schöneres als geliebt zu werden, geliebt um seiner selbst Willen oder vielmehr: trotz seiner selbst», sagt Victor Hugo in seinem Roman «Der Glöckner von Notre Dame».
Quasimodo, hässlich, bucklig, blind auf einem Auge und taub ist eine der Figuren, die Victor Hugos Romane bevölkern. Für sie, die Ausgestossenen, die Randfiguren, die Armen, die Sträflinge setzte sich Hugo ein. Allerdings schloss er Frauen nicht mit ein, ausser als naive, kindhafte Jungfrauen. Aufgrund seiner «patriarchalen Misogynie» bedankt sich No Anger zum Schluss explizit NICHT bei Victor Hugo.
No Anger's Performances wurden an der ENS Lyon, im MAC VAL – Musée d'Art Contemporain du Val-de-Marne, im Palais de Tokyo und im Centre Pompidou präsentiert. Ihre Arbeit wurde 2023 mit dem Prix Utopi-e für LGBTQIA+- Künstler:innen ausgezeichnet.