Amina (rechts) und Jamila (links) Ouahid gebärden gleichzeitig, ihre Gesichter in einem mittelbraunen Teint. Beide haben schwarze Haare. Amina hat die Seitenhaare hochgesteckt und Jamila alle ihre Haare. Amina trägt ein schwarzes T-Shirt mit V-Ausschnitt und eine hellgraue Stoffhose. Jamina einen dunkelgrünen Pullover und eine dunkelblaue Stoffhose.

Amina und Jamila Ouahid beim Unterrichten. Bildnachweis: Mirjam Münger.

Um einen Frosch zu verkörpern, formt Markus Riesenbeck mit seinen Händen einen mächtigen Kopf und mit seinen Armen einen Kugelkörper. Dann wechselt er zur Aussenperspektive und stellt mit den Fingern auf seinem Unterarm dar, wie das Tier über den Boden springt. Anschliessend gleitet er zurück zum Frosch als Ich-Erzähler und geht leicht in die Hocke, als würde er sich kauern. Und – schwups – schnappt er sich aus der Luft ein Insekt und verschlingt es, vorgeführt mit seiner Zunge, die aus seinem Mund hervorblitzt, und dem Arm mit ausgestrecktem Zeige- und Mittelfinger, die die lange Zunge wiedergeben.

Gelächter erfüllt den Raum im Dachgeschoss der Kaserne in Basel. Die Anwesenden, alle gehörlos, die in einem Halbkreis um Riesenbeck sitzen, werfen ihre Arme in die Luft, um zu applaudieren. Die Hände sehen wie Blätter aus, die im Wind flattern. Daran, wie die Applaudierenden ihre Hände in der Höhe wedeln, erkennen gehörlose Menschen die Intensität des Applauses.

Die Kreativität beflügeln

Jamila Ouahid, eine der Workshop-Leiterinnen, steht auf. Ihre Gebärden fliessen, als sie hervorhebt, was Riesenbeck an seiner Frosch-Performance gelungen ist. Als Input fügt sie hinzu: «Du könntest die Fliegebewegung des Insekts ausbauen und so charakterisieren, ob es beispielsweise fröhlich vor sich hinfliegt.» Solche und weitere Anregungen bekommen die neun Frauen und vier Männer, die am zweiten und letzten Kurstag in «Visual Vernacular», einer Richtung der Gebärdensprachkunst, teilnehmen.

Eine der Übungsaufgaben war, unterschiedliche Charaktere vorzuzeigen und zwischen ihren Rollen und Perspektiven zu wechseln. Deshalb schlüpfen die Übenden in die Rolle der Sonne, von Buchseiten oder eines Berges – von aussen und innen betrachtet.

Die Leiterinnen, die Zwillingsschwestern Amina und Jamila Ouahid aus Stockholm, wechseln in ihren Erklärungen und Inputs ab und ergänzen einander. Zuweilen gebärden sie gleichzeitig. Wie bei einem Tanz in gegenseitigem Respekt und Vertrauen.

Nachdem alle Teilnehmer:innen ihre Einzel-Auftritte vorgeführt haben, leiten sie die Schwedinnen mit marokkanischen Wurzeln an: «Jetzt entwickelt ihr zu zweit ein Stück und führt es uns anschliessend vor. Dazu habt ihr eine Viertelstunde Zeit.» Die bisherigen Übungen scheinen nun einfach. Wie schaffen die Teilnehmenden die neue Aufgabe, und das vor den Profis Ouahids, die weltweit als Duo auftreten?

«Visual Vernacular ist eine Kunstform ohne Grenzen. Sie ist eine unglaubliche kraftvolle und wunderschöne Ausdrucksform, die direkt aus dem Herzen kommt und tief bewegend ist.»

Amina und Jamila Ouahid, Künstlerinnen

Zu zweit vielseitig

Amina und Jamila Ouahid sind Schauspielerinnen, Performerinnen, Moderatorinnen, Entertainerinnen und Kursleiterinnen – in Schweden wie auch im Ausland. Auch decken sie mehrere Richtungen der Gebärdensprachkunst ab, wie Visual Vernacular, Slams in Gebärdensprache, Geschichten mit Handformen. Daher bezeichnen sich die 33-Jährigen gerne als multidisziplinäre Künstlerinnen.

Bei ihren Aufführungen harmonisieren und kontrastieren sie einander, sie lösen einander ab oder zeigen gleichzeitig unterschiedliche Gebärden und Gesichtsausdrücke. Mit einer Eleganz, Perfektion und einem Zusammenspiel, als atme eine einzige Seele.

Visuelles Storytelling ohne Grenzen

Visual Vernacular, oft abgekürzt auf VV, ist eine visuelle Erzähltechnik. Wie Jamila Ouahid erläutert, «ist VV wie eine eigene Sprache, mit der sich alles ausdrücken lässt, nur durch Körpersprache, Bewegung und Mimik.» Sie könne ohne eine einzige Gebärde aus einer Gebärdensprache oder ohne ein einziges Wort einer gesprochenen Sprache auskommen. «Wir lieben VV, weil wir sie mit vielen Details und Gesichtsausdrücken ausschmücken können. Mit VV können wir Emotionen vermitteln und das Publikum einladen mitzufühlen.»

VV enthält Effekte aus der Filmtechnik und der 3D-Animation. VV-Kunstschaffende spielen mit der Mimik und dem Tempo, indem sie dramatische Momente in Zeitlupentempo packen und dann zu aktionsreichen Szenen übergehen. Sie wechseln Perspektiven, zum Beispiel von Frosch- zu Vogel- oder Panoramaperspektiven. Sie lassen nicht nur menschliche Charaktere sprechen und Gefühle zeigen, sondern auch Tiere und Gegenstände. Selbst abstrakte Inhalte und Formen, wie Kreise und Linien, finden Eingang in VV.

«Wir lieben es, mit Visual Vernacular Themen anzusprechen, die das Publikum zum Nachdenken bringt.»

Amina und Jamila Ouahid, Künstlerinnen

Starke Botschaften mit VV

Nach den Ouahids ist VV «eine Kunstform ohne Grenzen. Sie ist eine unglaubliche kraftvolle und wunderschöne Ausdrucksform, die direkt aus dem Herzen kommt und tief bewegend ist.» Mit ihr teilen die Ouahids neben Geschichten auch Erfahrungen und Gedanken: «Wir lieben es, mit VV Themen anzusprechen, die das Publikum zum Nachdenken bringen», etwa über die Rechte und Perspektiven der Frauen und gegen die Ausgrenzung und Diskriminierung der BIPoC (schwarze, indigene oder andere Personen, die von Rassismus betroffen sind, Anm. d. Red.).

«Die Brutalität eines Kriegs oder eines traumatischen Ereignisses kann zu grausam sein, um sie auf der Bühne vorzuführen», erklärt Jamila Ouahid. Um sie trotzdem zu thematisieren, nutzen die Ouahids häufig Metaphern. 

Auf dem Foto sind Amina und Jamila Ouahid mit den 9 Teilnehmerinnen und den 4 Teilnehmern. Alle blicken an der Kamera vorbei, lächeln gut gelaunt und haben ihre Hände in die Höhe gehoben. Ein paar bilden mit dem Zeige- und Mittelfinger ein V, die Gebärde für Visual Vernacular.

Teilnehmende des Workshops in Visual Vernacular. Bildnachweis: Mirjam Münger.

Die Kreationen der Duo-Shows

Die Ouahids erleichtern es den Teilnehmenden, auf die nächste Schwierigkeitsstufe zu steigen, indem sie ihnen im Tandem ein Beispiel vorzeigen:

Amina Ouahid rudert ein Boot, während ihre Schwester hinter ihr mit den Armen das Kreisen der Ruder visualisiert. Danach performt die Schwester mit ihren Händen, wie ein Vogel am Himmel fliegt. Die Ruderin zückt die Kamera und knipst. Plötzlich taucht neben ihrem Boot ein Dreieck auf, das sich als Rückenflosse eines Haifisches entpuppt. Es springt mit ihrem Kopf aus dem Wasser, reisst ihr Maul auf und präsentiert ihre spitzen Zähne. Jamila Ouahid bildet diese mit ihren gespreizten Fingern nach.

«Alle können Visual Vernacular! Das Visuelle ist etwas, das in uns lebt. Es muss nur entlockt und entwickelt werden.»

Jamila Ouahid, Künstlerin

Daraufhin machen sich die Teilnehmer:innen zu zweit an ihr Werk. Geschäftigkeit erfüllt den Raum, während Sonnenlicht durch die Dachfenster strahlt und den Holzboden erhellt.

Danach ist es soweit: Bei einigen huscht ein verlegenes Lächeln übers Gesicht, andere reiben sich an den Händen oder fahren noch schnell durchs Haar, bevor sie zu zweit auftreten. Dann schwingen sie in unterschiedliche menschliche und nichtmenschliche Rollen, wechseln zwischen ihnen und lassen sie miteinander interagieren. Die Ideen sprudeln nur so, vielfältige Charaktere wie eine Zigarette, ein Gewitter, ein Wasserhahn oder ein Köder an der Angelschnur werden lebendig.

«Seht ihr, ihr alle habt VV in euch!», bestärkt Jamila Ouahid die Anwesenden und fügt an: «Alle können VV!» Das Visuelle sei etwas, das in uns lebe. «Es muss nur entlockt und entwickelt werden.»

«Wir denken, dass das künstlerische Potenzial in der Schweizer Gebärdensprach-Community sehr hoch ist.»

Mara Flückiger, movo

VV weiter voranbringen

Die Teilnehmerin Stephanie Mündel-Möhr, selber Regisseurin, Schauspielerin und Performance-Künstlerin, hat die gute Stimmung in der Gruppe genossen. «Ich habe viel gelernt, wie ich neben Figuren, auch Tiere und Gegenstände personalisieren kann. Die Ouahids sind eine Inspiration!» Markus Riesenbeck, der in Luxemburg wohnt, teilt ihre Begeisterung: «Die Ouahids sind grandios und der Workshop ist super!» Er werde das Gelernte mitnehmen und zuhause anderen zeigen.

Organisiert wurde der Workshop vom Theaterverein movo, der sich aus gehörlosen und hörenden Kulturschaffenden zusammensetzt. «Wir denken, dass das künstlerische Potenzial in der Schweizer Gebärdensprach-Community sehr hoch ist», sagt Mara Flückiger vom Leitungsteam. Da die Gebärdensprache in der Schweiz lange verboten war und der Schweizer Gehörlosenbund SGB-FSS noch heute um die ihre Anerkennung kämpft, entwickle sie sich jetzt umso dynamischer und rasanter. «Die Community hat richtig Lust darauf, mit ihrer wunderbaren Sprache zu experimentieren, zu spielen und sie poetisch anzuwenden.»

Das ist movo

Movo ist ein Verein für das Kulturschaffen von, für und mit gehörlosen und hörenden Menschen.

Er fördert gehörlose Menschen darin, sich in den darstellenden Künsten zu entfalten. Dabei steht die Gebärdensprache als eigenständige Sprache und künstlerische Ausdrucksform im Mittelpunkt.

Zudem engagiert sich movo für die Inklusion: Durch Kunst bringt der Verein gehörlose und hörende Menschen zusammen und stärkt so das gegenseitige Verständnis. Er setzt sich dafür ein, dass gehörlose Menschen Zugang zu Theater, Tanz und anderen Bühnenstücken erhalten – und dass die Werke gehörloser Künstler:innen auch für Hörende erlebbar werden.

Darüber hinaus organisiert movo Theaterkurse mit Gebärdensprache für gehörlose und hörende Interessierte und plant regelmässige Bühnenveranstaltungen mit VV, Gebärdensprach-Slams oder -Poesie.

www.movo-art.ch