*Anmerkung zum Sprachgebrauch: Es wird aufgrund fehlender Datengrundlagen von der binären Kategorie «Frau» gesprochen. Es wird angenommen, dass die Vulnerabilität und Betroffenheit von Menschen ausserhalb der binären Geschlechtervorstellungen mindestens genauso hoch, wenn nicht sogar höher als bei cis Frauen ist.

Wer darf Kinder kriegen und wer nicht? Zwangssterilisationen von Frauen mit Behinderungen sind kein dunkles Kapitel der Vergangenheit, sondern Teil unserer Gegenwart.
Historisch wurde Zwangssterilisation weltweit als Mittel zur Kontrolle ganzer Bevölkerungsgruppen eingesetzt: marginalisierte Frauen, Menschen mit Behinderungen, arme, rassifizierte oder «moralisch auffällige» Personen wurden sterilisiert, um gesellschaftliche «Probleme» zu beseitigen. In der Schweiz waren solche Praktiken bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts Teil eugenischer Politik – häufig durch gesetzliche Regelungen legitimiert und von staatlichen Institutionen mitgetragen.
Bis heute werden diese damaligen eugenischen Praktiken in der Schweiz kaum öffentlich thematisiert. Dabei bleibt die Zwangssterilisation in der Schweiz bis heute mehr als ein rechtliches oder medizinisches Problem – sie zeigt auf, wie tief Ableismus und patriarchale Vorstellungen in unserer Gesellschaft verankert sind.
Ein Relikt der Vergangenheit? Leider nicht.
Zwar hat sich seither der gesellschaftspolitische Diskurs verändert, doch die gesetzlichen Rahmenbedingungen erlauben es weiterhin, dass Menschen gegen ihren Willen zwangssterilisiert werden können. Die hierfür relevante rechtliche Grundlage befindet sich im Artikel 7 des Sterilisationsgesetzes, welches 2004 in der Schweiz eingeführt wurde.
Dieses reguliert seither unter welchen Bedingungen Sterilisation zu Verhütungszwecken erlaubt ist. Zudem erlaubt es die Sterilisation von urteilsunfähigen Personen ab 16 Jahren, wenn «im Interesse der betroffenen Person» gehandelt wird. Dabei ist ihre Zustimmung in solchen Fällen keine zwingende Voraussetzung.
«Das Sterilisationsgesetz erlaubt die Sterilisation von urteilsunfähigen Personen ab 16 Jahren, wenn ‹im Interesse der betroffenen Person› gehandelt wird. Dabei ist ihre Zustimmung in solchen Fällen keine zwingende Voraussetzung.»
Doch wie das «im Interesse der betroffenen Person» genau zu interpretieren ist – bleibt umstritten. Wer entscheidet, was gut für die Betroffenen ist, wenn diese sich nicht äussern dürfen? Und nach welchen «objektiven» Kriterien wird geurteilt? Entscheidend ist oft die Einschätzung von Familienmitgliedern, medizinischem Fachpersonal oder rechtlichen Betreuer:innen – nicht die Perspektive der betroffenen Person selbst.
Internationales Recht – dennoch unzureichender Schutz
Internationale Organisationen wie die UN, der Europarat und das Europäische Parlament haben Zwangssterilisation längst als Menschenrechtsverletzung anerkannt. Menschenrechtsorganisationen wie Inclusion Handicap, BRAVA oder das Europäische Behindertenforum (EDF) fordern seit Jahren ein explizites Verbot der Zwangssterilisationen. Sie widersprechen dem Prinzip der informierten Zustimmung, wie es etwa in der UN-Behindertenrechtskonvention festgehalten wird.
Dabei garantieren Artikel 12 und 23 der UN-BRK das Recht auf (reproduktive) Selbstbestimmung, rechtliche Handlungsfähigkeit und Familiengründung und fordern volle rechtliche Handlungsfähigkeit von Menschen mit Behinderungen – auch in Fragen von Sexualität und Reproduktion. Die Schweiz hat die UN-Behindertenrechtskonvention 2014 ratifiziert – ohne bislang alle Vorgaben umzusetzen.
In vielen Ländern wird die Sterilisation ohne Zustimmung zwar problematisiert, ist aber nicht explizit verboten – oder wird durch Ausnahmeregelungen legitimiert. Dennoch existieren Vorbilder für die Schweiz: In Spanien wurde die Zwangssterilisation von Menschen mit Behinderungen 2020 vollständig verboten. In Schweden existieren seit 1999 klare gesetzliche Verbote, um das Recht auf Selbstbestimmung im Bereich der Reproduktion gesetzlich zu stärken. In Norwegen ist jede Form von Sterilisation ohne Zustimmung mittlerweile untersagt, auch wenn eine Person als nicht urteilsfähig gilt. In Neuseeland wiederum wird aktuell über weitreichende gesetzliche Reformen diskutiert. Zudem soll die Geschichte der erzwungenen oder unbegründeten Sterilisation in Zukunft stärker thematisieren werden.
«Im besten Interesse» – oder doch gesellschaftliche Bequemlichkeit?
Befürworter:innen verteidigen die Praxis oft mit Argumenten rund um Schutz und Fürsorge der Betroffenen. Eine Schwangerschaft bei Frauen mit bestimmten Behinderungen könne ein erhöhtes Risiko darstellen. Die betroffene Person sei «nicht in der Lage», ein Kind zu versorgen und grosszuziehen. Eine Schwangerschaft könne Pflegeeinrichtungen überfordern, Angehörige überlasten oder «unnötige» Kosten verursachen.
«Nicht die Rechte der Betroffenen stehen im Fokus, sondern gesellschaftliche ‹Effizienz› und ‹Nutzen›. Zudem werden alternative, weniger invasive Lösungen – wie gezielte Aufklärung, Zugänge zu reproduktiver Gesundheitsversorgung oder unterstützende Elternmodelle – oft nicht einmal geprüft.»
Doch diese Begründungen verschiebt das Problem: Nicht die Rechte der Betroffenen stehen im Fokus, sondern gesellschaftliche «Effizienz» und «Nutzen». Zudem werden alternative, weniger invasive Lösungen – wie gezielte Aufklärung, Zugänge zu reproduktiver Gesundheitsversorgung oder unterstützende Elternmodelle – oft nicht einmal geprüft.
Solche Argumente sind Ausdruck tief verwurzelter ableistischer Strukturen. Sie beruhen auf Annahmen, dass Menschen mit Behinderungen keine Sexualität haben (dürfen), keine Eltern sein können oder gar kein Recht auf Intimität haben. Besonders Frauen sind von den Vorstellungen betroffen, keine sexuellen Wesen zu sein, kein «guten» Mütter sein zu können oder gar «geschützt» werden zu müssen. – paradoxerweise nicht vor geschlechtsspezifischer Gewalt, sondern vor der Möglichkeit, schwanger zu werden.
Internationale Studien zeigen, dass Zwangssterilisation keinen Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt bietet. Im Gegenteil: Sie kann sogar das Risiko erhöhen, weil Tatpersonen wissen, dass keine Schwangerschaft als «sichtbare» Folge oder Beweis zurückbleibt. Sterilisation als «Schutzmassnahme» entpuppt sich so als gefährliche Illusion.
«Andere Körper» – andere Rechte?
Die Befürwortung der Zwangssterilisation von Menschen mit Behinderungen führt zu einer gefährlichen Entmündigung. Frauen mit Behinderungen werden infantilisiert, ihre Körper als «abweichend», ihr Leben als «nicht normal» gewertet. Diese Form des sogenannten «Othering» schafft ein wirkmächtiges Narrativ: Diese Frauen seien nicht fähig, über sich selbst zu bestimmen – und müssten deshalb von anderen versorgt und kontrolliert werden. Doch körperliche Autonomie und reproduktive Selbstbestimmung ist kein Privileg. Sie ist ein Menschenrecht – und zwar für alle.