Simon Christian Meier. Bilnachweis: zVg.

«Demokratie fehlt Begegnung» – der Titel von Rainald Manthes neuem Buch klingt wie ein Aufruf zur Veränderung. Und genau das ist es auch. Der Soziologe und Experte für Demokratieentwicklung macht deutlich: Eine funktionierende Demokratie lebt nicht von Formalitäten, Wahlen und Abstimmungen und Parteienstrukturen, sondern vom Zusammenwirken und Zusammensein von Menschen. Sie braucht den Austausch, das Verständnis und vor allem die Begegnung zwischen Menschen unterschiedlicher Hintergründe und Lebenswelten. 

Demokratie braucht ein Aufeinanderzugehen

Rainald Manthe zeichnet ein kritisches Bild der modernen Demokratie – wobei er sich insbesondere auf die Situation in Deutschland beruft. Sie sei, so seine These, zur blossen «Abstimmungs- und Verwaltungsdemokratie» geworden. Parteien, Institutionen und auch Bürger:innen agierten oft nur noch innerhalb formaler Strukturen – Wahlen, Behördenvorgänge, Abstimmungen. Doch was fehlt, ist das Wesentliche: die Begegnung und der Austausch unterschiedlicher Personen im Alltag. 

Das echte Aufeinanderzugehen, die Neugier auf andere Perspektiven und die Bereitschaft, sich in die Lebensrealitäten anderer hineinzufühlen. Denn Demokratie ist mehr als Mehrheitsentscheidungen. Sie lebt vom Austausch, von gemeinsamen Aktivitäten und der Fähigkeit, Konflikte friedlich zu lösen. Sie leistet Widerstand gegen die Gefahr der Vereinzelung. 

Wenn sich gesellschaftliche Gruppen oder Einzelpersonen immer weiter voneinander abschotten, geht das Gefühl für Gemeinschaft verloren. Misstrauen wächst – und die Demokratie wird geschwächt. Echte Begegnungen – ob im Beruf, Verein, in der Nachbarschaft oder in Projektgruppen – bauen Brücken. Sie schaffen Verständnis, das über blosse Toleranz hinausgeht.

Inklusion ist ein Test für die Demokratie

Beim Thema Inklusion zeigt sich, ob eine Gesellschaft den Begegnungsgedanken wirklich lebt – oder nur davon spricht. Inklusion bedeutet nämlich mehr als die Integration von Menschen mit Behinderungen in ausgewählte Systeme wie den Arbeitsmarkt oder das Bildungswesen (wo dies auch nur sehr begrenzt funktioniert). Es geht um gleichberechtigte Teilhabe und die Anerkennung und Wertschätzung aller Perspektiven. 

«Echte Begegnungen – ob im Beruf, Verein, in der Nachbarschaft oder in Projektgruppen – bauen Brücken. Sie schaffen Verständnis, das über blosse Toleranz hinausgeht.»

Simon Christian Meier, Erziehungs- und Inklusionsberater

Dies ist deshalb wichtig, weil eine vielfältige Gesellschaft erstens mehr Ideen und Lösungsansätze hervorbringt. Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen und Fähigkeiten bereichern Diskurse und tragen zu innovativen Lösungen bei. Zudem führt dies zweitens zu einem Abbau von Barrieren für viele. 

Ob physische Hindernisse, digitale Hürden oder kommunikative Barrieren – sie alle schränken die Teilhabe vieler ein. Barrierefreiheit ist kein Luxus, sondern eine demokratische Notwendigkeit. Und drittens stärkt Inklusion den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wer sich für Barrierefreiheit einsetzt, setzt sich oft auch für andere Formen der Teilhabe ein und schafft ein Bewusstsein für die Vielzahl an real existierenden Lebensrealitäten.

Wir müssen Lebensrealtitäten erleben 

Zentral ist der direkte Austausch. So dass wir uns ein echtes Bild von der realen Vielfalt der Lebensrealitäten machen (müssen). Konkret kann dies dreierlei bedeuten: Es sollen erstens Begegnungsorte geschaffen werden:Politik, Kantone/Gemeinden und Zivilgesellschaft müssen Räume fördern, in denen Menschen mit und ohne Behinderungen zusammenkommen – sei es im Sportverein, in kulturellen Einrichtungen oder in digitalen Communities. 

Zweitens braucht es Projektinitiativen: Inklusive Feste, Schulprojekte oder barrierefreie Workshops sind mehr als Symbolpolitik. Sie sind konkrete Schritte hin zu echter Teilhabe. Und drittens müssen alle Verantwortung übernehmen:  Demokratie ist keine Einbahnstrasse. Alle können dazu beitragen, Barrieren abzubauen – ob im Freundeskreis, in den Medien, am Arbeitsplatz, im Quartier oder durch Engagement für barrierefreie Kommunikation.

Begegnungen sind der Schlüssel

«Demokratie fehlt Begegnung» ist ein Appell, unsere Gesellschaft neu zu denken. Es geht darum, Zugänge zu schaffen, Hemmschwellen abzubauen und echte Begegnungen und Auseinandersetzung (wieder) zu ermöglichen. Inklusion ist dabei kein «Nice-to-have», sondern eine Voraussetzung für das Funktionieren der Demokratie. Wer Menschen aufgrund von Behinderungen ausschliesst, beraubt die Gesellschaft nicht nur einer wichtigen Stimme und einer zentralen Expertise, sondern schwächt auch den sozialen Zusammenhalt.

Demokratie braucht Begegnung. Sie braucht Menschen, die sich einbringen und aufeinander zugehen. Inklusion ist der Garant dafür, dass alle Stimmen gehört werden – und dass Begegnung mehr bleibt als ein leeres Wort.

Zum Autor

Simon Christian Meier ist promovierter Erziehungswissenschaftler und setzt sich als Berater mit seiner eigenen Firma für die Umsetzung der Inklusion ein.

Das Buch «Demokratie fehlt Begegnung. Über Alltagsorte des sozialen Zusammenhalts» von Rainald Manthe ist 2024 im transcript Verlag erschienen.