Im Bild trägt eine Frau eine grosse Sonnenbrille. Sie lächelt und hält eine Erdbeere in der Hand.

Es sollte einen besonderen Moment im Leben einer chronisch kranken Person geben. Einen, an dem man spürt, dass man nicht verpflichtet ist, seinen Körper wie eine Präsentation zu erklären. Dass man nicht jeden Schub, jede Müdigkeit, jeden Schmerz und jede Schwäche mit einer Analyse versehen muss. Menschen ohne Diagnose tun das ja auch nicht. Sie sagen einfach, dass es ihnen nicht gut geht und nennen maximal ein Stichwort à la Kopfweh. Niemand fordert sie danach auf, die letzten drei Tage minutiös nachzuerzählen und in Erfahrung zu bringen, was sie bereits versucht haben, um sich selbst zu heilen. Niemand fragt nach Beweisen, Namen von Medikamenten oder Alternativmethoden. Bei uns chronisch kranken Personen funktioniert das selten so.

Wenn ich sage, dass es mir nicht gut geht, beginnt oft ein ganzes Frage-Feuerwerk: Wie lange schon. Was ich dagegen gemacht habe. Ob es nicht rein psychisch sein könnte. Darauf folgen Tipps wie, die neue Creme von Amazon zu kaufen oder Tantra-Massagen mit dem Nachbarn zu testen. Und während man versucht, höflich zu bleiben, spürt man, wie die eigene Energie langsam den Rückzug antritt. Nicht, weil die Krankheit so schlimm wäre, sondern weil das ständige Erklären eine zusätzliche Last ist, die man gar nicht braucht.

Ich dachte lange Zeit, ich sei verpflichtet, jede Nachfrage zu beantworten. Dass mich Offenheit sympathisch macht, dass ich mich erklären müsse, um ernst genommen zu werden und für Verständnis sorgen könnte. Dann merkte ich, dass mich das ständige Erzählen und Rechtfertigen viel Kraft kostet und es einer ungewollten Einladung, alles über mich zu erfahren, gleichkommt. Aber diese Einladung lässt sich leider nicht zurücknehmen. Scheibenkleister. Wie wenn du am Montag bereits im Kopf hast, dass die gesamte Familie deines Partners am nächsten Wochenende bei euch übernachten wird. Mitsamt den Zwillingen, die kaum jemand erträgt, und der toxischen Schwägerin, die immer aufblüht und rosa Wangen bekommt, wenn sie passiv-aggressiv ist. 

«Diese Entscheidung, sich nicht zu erklären, ist übrigens keine Unhöflichkeit. Sie ist ein Ausdruck von Selbstachtung.»

Silvia Jauch, RoB-Reporterin

An diesem Punkt beginnt irgendwann etwas Erstaunliches: Man fängt an, sich innerlich aufzurichten. Es entsteht eine stille Form von Freiheit oder sogar Kampfgeist. Freiheit, einfach nein zu sagen. Kampfgeist, darauf hinzuweisen, dass etwas privat ist und es auch bleibt. Man sagt einen Satz und geht gedanklich weiter, ohne auf die Reaktion zu warten. Es fühlt sich an wie ein kleiner Sieg im Alltag, ein Moment, in dem man sich selbst zurückholt. Ja, man verliert so laufend Kontakte und wird auf der Strasse nicht mehr so oft gegrüsst. Aber das ist besser, als Erdbeeren mit Sahne an einem Sommertag am Letten, als man im Bikini noch knackig aussah. Ich schwöre es!

Diese Entscheidung, sich nicht zu erklären, ist übrigens keine Unhöflichkeit. Sie ist ein Ausdruck von Selbstachtung. Menschen mit chronischen Erkrankungen bewegen sich ohnehin durch eine Welt, in der man oft lieber eine funktionierende Version von ihnen sehen möchte oder dann bitte gleich sterbenskrank. Hauptsache kein Graubereich, weil das überfordert die Gemüter. Man wird beobachtet, bewertet und manchmal ganz keck infrage gestellt. Doch wir sind keine wissenschaftlichen Versuchsreihen. Wir sind keine Fallstudien. Und wir müssen nicht einer Vorstellung von einem mickrigen Frontalhirn entsprechen. Wir sind Menschen, die versuchen, jeden Tag so gut wie möglich zu gestalten und unser Bestes geben. 

«Diese Haltung ist kein Kampf gegen die Welt, sondern eine Umarmung des eigenen Selbst.»

Silvia Jauch, RoB-Reporterin

Dabei hilft die Erkenntnis, dass man auch ohne sich zu erklären glaubwürdig ist. Zumindest für einen selbst. Dass man wertvoll ist, wenn man Grenzen setzt. Dass Müdigkeit, Schmerzen oder Rückzüge keine Rechtfertigung benötigen. Es bedeutet, sich selbst ernst zu nehmen, auch wenn andere es nicht sofort tun. Diese Haltung ist kein Kampf gegen die Welt, sondern eine Umarmung des eigenen Selbst und ein verdammt klares Statement gegenüber der Horde Dementoren, die aus welchen Gründen auch immer dein Leben aussaugen. 

Deshalb lautet mein persönliches Manifest schlicht: Ist mir total wurscht. Punkt. Und falls jemand denkt, er habe ein Recht auf meine inneren Abläufe, dann schenke ich ein freundliches Lächeln und frage freundlich nach, ob er oder sie schon immer Mühe damit hatte, Grenzen zu erkennen und vielleicht ein Tantra-Kurs helfen könnte. Denn ein wenig grinsende Arroganz kann manchmal lauter und würdevoller sein als jede Erklärung.

Über die Autorin

Ich bin Silvia, 42 Jahre alt, Mutti von einer fabelhaften Tochter (mit Biss), Rheumabetroffene, chronisch krank und chronisch direkt. Mein Leben? Eine Alltagskomödie mit viel Lippenstift, noch mehr Diagnosen und sprachlichen Abenteuern.

Alle drei Wochen gibt’s neue Geschichten mitten aus Silvias Leben: ehrlich, humorvoll und mit einer Prise Chaos.

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