Auftaktveranstaltung der internationalen Kampagne ‚16 Tage gegen Gewalt an Frauen‘ auf dem Bahnhofplatz in Bern: Menschen versammeln sich mit Bannern und Informationsmaterial, um auf Gewalt gegen Frauen und queere Personen mit Behinderungen aufmerksam zu machen

Am 25. November fand auf dem Bahnhofplatz in Bern der Auftakt der internationalen Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» statt. Diesmal im Fokus: Gewalt gegen Frauen und queere Personen mit Behinderungen. Bildnachweis: Frieda – die feministische Friedensorganisation, Fotografin: Livia Walke.

«Es gibt nicht behindert und nicht behindert. Es gibt behindert und noch nicht behindert. Jede Person kann im Laufe ihres Lebens auf eine Art behindert werden.»

Das sagt Namila Altorfer, Co-Leiter:in des Netzwerks Avanti, im Gespräch mit Reporter:innen ohne Barrieren (RoB). Der Satz bleibt hängen. Für viele ist diese Tatsache etwas, das sie lieber verdrängen. 

Und genau hier liegt das Problem: Menschen mit Behinderungen sind in der Schweiz an vielen Orten nicht vertreten, ihre Erfahrungen bleiben unsichtbar. Für Altorfer ist diese fehlende Teilhabe von Menschen mit Behinderung auch eine Form von Gewalt.

«Die Unsichtbarkeit zeigt sich besonders deutlich, wenn es um geschlechtsspezifische Gewalt geht», sagt Altorfer. Frauen und queere Personen mit Behinderungen würden oft als «geschlechtslos» wahrgenommen. «Es gibt das Vorurteil, dass Frauen und queere Personen mit Behinderung keine sexualisierte Gewalt erleben können.»

«Es gibt das Vorurteil, dass Frauen und queere Personen mit Behinderung keine sexualisierte Gewalt erleben können.»

Namila Altorfer, Co-Geschäftsleitung Netzwerk Avanti

Avanti ist ein Netzwerk von und für Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nicht-binäre, trans und agender Personen (FLINTA), die mit einer Behinderung oder chronischen Krankheit leben. Seit mehr als zwanzig Jahren engagiert sich der Verein für die Gleichstellung und die diskriminierungsfreie gesellschaftliche Teilhabe aller FLINTA.

Petition für mehr Forschung lanciert

In diesen Tagen haben sie besonders viel zu tun: Wie jedes Jahr läuft die internationale Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» – diesmal mit dem Fokus «Geschlechtsspezifische Gewalt und Behinderungen». 

Die feministische Friedensorganisation Frieda, welche die Kampagne in der Schweiz koordiniert, hat Avanti an Bord geholt. «Es ist uns besonders wichtig, dass Betroffene die Kampagne mittragen», sagt Alma Onambele von Frieda. 

Zum Kampagnenstart am 25. November, dem Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, haben das Netzwerk Avanti und agile, der Schweizer Dachverband der Selbsthilfe- und Selbstvertretungsorganisationen von Menschen mit Behinderungen, die Petition «Stopp Gewalt an Frauen und queeren Personen mit Behinderungen!» lanciert. Sie fordert eine schweizweite Datenerhebung und Forschung zu Gewalt an Frauen und queeren Personen mit Behinderungen. Zudem sollen Frauenhäuser, Opferhilfestellen und die Justiz barrierefrei für alle zugänglich werden – ohne physische, sensorische, sprachliche, kognitive oder soziale Barrieren.

Abhängigkeit birgt Risiko

Selbst die dünne Datenlage zeigt: Frauen und queere Personen mit Behinderungen erleben zwei bis viermal häufiger körperliche, psychische, sexualisierte und strukturelle Gewalt als Personen ohne Behinderungen. Laut einem Bericht des Bundesrats sind vor allem jene betroffen, die im Alltag auf Unterstützung angewiesen sind. Diese Abhängigkeit kann von betreuenden oder pflegenden Personen ausgenutzt werden – sowohl zu Hause als auch in Institutionen wie Pflegeheim, Tagesstätte oder Klinik. 

Sie können oft nicht über wichtige Lebensbereiche entscheiden, etwa die Wohnform oder ihre Freizeitgestaltung. Erlebt die Frau Gewalt durch ihre Mitbewohner:in oder vom Personal, zögert sie, diese zu melden, aus Angst ihren Platz in der Einrichtung zu verlieren.

«Es ist uns besonders wichtig, dass Betroffene die Kampagne mittragen.»

Alma Onambele, feministische Friedensorganisation Frieda

Wenn sich Betroffene trotzdem trauen, Unterstützung zu suchen, sind die Angebote oft nicht barrierefrei: Von 23 Frauenhäusern in der Schweiz und Liechtenstein sind nur zwei rollstuhlgängig. Das Netzwerk Avanti hat an der vergangenen Generalversammlung der Dachorganisation Frauenhäuser Schweiz und Liechtenstein (DAO) teilgenommen. «Die Mitarbeiter:innen sind sensibilisiert und engagiert», sagt Altorfer. Aber es fehle an Geld, um die Gebäude umzubauen oder Gebärdensprachdolmetscher:innen zu engagieren. «Es ist ein Skandal, dass die Schweiz zu den reichsten Ländern der Welt gehört, aber Frauenhäuser auf Spenden angewiesen sind.»

Den Behinderungsbegriff umdeuten

Um den Zusammenhang von geschlechtsspezifischer Gewalt und Diskriminierung zu verstehen, arbeitet die Friedensorganisation Frieda mit der Gewaltpyramide. Die unterste Stufe dieser Pyramide bilden Diskriminierungen wie Ableismus, Sexismus und Rassismus. «FINTA-Personen mit Behinderungen erleben oft eine Verdoppelung der Gewalt: wegen ihres Geschlechts und ihrer Behinderung», erklärt Namila Altorfer. Diese Form der Gewalt wird als Mehrfachdiskriminierung bezeichnet. An der Spitze der Gewaltpyramide stehen Vergewaltigung und schliesslich Femizid. Die Gewaltpyramide zeigt: Diskriminierung im Alltag kann zu massiverer Gewalt führen. 

«Im Alltag gilt das Wort «Behinderung» noch immer als Schimpfwort.» Für Altorfer ist es deshalb ein politischer Akt, den Begriff zurückzuerobern. «Wir sind behindert – behindert von den Barrieren in der Gesellschaft.» Damit verweist sie auf das soziale Modell von Behinderung: Die Behinderung ist eine Folge von Barrieren in der Gesellschaft.

«Es ist ein Skandal, dass die Schweiz zu den reichsten Ländern der Welt gehört, aber Frauenhäuser auf Spenden angewiesen sind.»

Namila Altorfer, Co-Geschäftsleitung Netzwerk Avanti

Auch die Workshops, Ausstellungen oder Online-Diskussionen während der «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» sollen möglichst zugänglich sein. Gleichzeitig weiss Alma Onambele von Frieda: «Barrierefreiheit verunsichert viele Veranstalter:innen. Oft wird dann lieber gar nichts angeboten, aus Angst, etwas falsch zu machen.» Deshalb hat die Organisation einen Leitfaden verfasst – nicht nur für barrierefreie, sondern auch für barrierearme Veranstaltungen.

Auch Frieda will innerhalb der Kampagne Barrieren abbauen. Dazu gehöre etwa, die Inhalte der Website in leichter Sprache bereitzustellen oder die Kampagnenvideos in Gebärdensprache zu produzieren. Damit zumindest während 16 Tagen die Bedürfnisse von Betroffenen im Fokus stehen.