
Alleingelassen in der Not: Wenn Schutzplätze fehlen, müssen gewaltbetroffene Frauen oft zurück in ihre Wohnung – und damit zurück in die Gefahr. Bildnachweis: Unsplash
Lisa will vor ihrem gewalttätigen Partner fliehen. Sie hat eine körperliche Behinderung, braucht Assistenz und eine rollstuhlgängige Unterkunft. Am Telefon erfährt sie, dass mehrere Frauenhäuser in der Region sie nicht aufnehmen können: Treppen, enge Türen oder fehlende Evakuierungsmöglichkeiten bei einem Brand können ihre Sicherheit nicht garantieren. Die Mitarbeiterinnen suchen nach Alternativen, finden aber weder einen spezialisierten Schutzplatz noch eine passende Notunterkunft in der Nähe. Schliesslich muss Lisa die Nacht in ihrer Wohnung verbringen, ohne Schutz, aber voller Angst um ihr Leben.
«Barrierefreiheit ist kein Zusatzangebot, sondern eine menschenrechtliche Pflicht.»
Solche Geschichten sind in der Schweiz real, auch wenn sie kaum dokumentiert sind. Der Schutz vor häuslicher Gewalt ist zwar ein Grundrecht. Doch gerade Frauen mit Behinderungen haben oftmals keinen Zugang zu diesem Schutz. Blertë Berisha, Co-Geschäftsleitung der Dachorganisation der Frauenhäuser Schweiz und in Liechtenstein (DAO), macht strukturelle Lücken dafür verantwortlich: «Barrierefreiheit ist kein Zusatzangebot, sondern eine menschenrechtliche Pflicht. Doch Frauenhäuser sind unterfinanziert, überbelegt und so schon am Limit».
Zu wenig Platz, zu viele Hürden
Laut der DAO verfügt die Schweiz über 23 Frauenhäuser mit insgesamt 202 Familienzimmern und 419 Betten. Damit erreicht sie nur ein Viertel der vom Europarat empfohlenen Anzahl von einem Familienzimmer pro 10’000 Einwohner:innen. Im vergangenen Jahr konnten so nur 28 Prozent der Anfragen für einen Platz in einem Frauenhaus direkt erfüllt werden.
«Zugänglichkeit bedeutet jedenfalls mehr als nur bauliche Anpassungen.»
Fachleute der Frauenhäuser und der DAO, sowie die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) nennen einige Gründe für die Ablehnung von Anfragen: Frauenhäuser sind oft voll belegt, Kantone verweigern die Kostengutsprache für einen (weiteren) Aufenthalt oder eine Anschlusslösung. Zudem fehlen geeignete Infrastruktur und ausreichend qualifiziertes Personal, um Menschen mit Suchtproblemen, Behinderungen, gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder im hohen Alter zu betreuen. Laut einer Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz (2024) mussten Gewaltbetroffene deshalb abgewiesen oder weitervermittelt werden. Bis heute bieten viele Kantone kein eigenes Frauenhaus an.
Was braucht es, damit Angebote für Frauen mit Behinderungen wirklich zugänglich sind? «Jedenfalls mehr als nur bauliche Anpassungen», sagt Namila Altorfer, Co-Geschäftsleitung des Netzwerks Avanti. Es bedeute vor allem auch kommunikative Zugänglichkeit: So existieren beispielsweise noch immer Notrufstellen, die nur telefonisch erreichbar sind, oder Webseiten ohne Leichte Sprache, ohne Kontraste oder Screenreader-Kompatibilität. Weitere Barrieren sind fehlende Übersetzungsangebote oder die mangelnde Möglichkeit zur schriftlichen Kommunikation. Besonders problematisch ist die fehlende 24-Stunden-Betreuung in einzelnen Frauenhäusern. Dadurch können Menschen, die auch in der Nacht Betreuung brauchen, nicht aufgenommen werden.
Istanbul-Konvention
Die Istanbul-Konvention ist ein Vertrag des Europarats. Sie verpflichtet die Mitgliedsstaaten, Gewalt gegen Frauen und Mädchen sowie häusliche Gewalt zu verhindern und zu bekämpfen.
In der Schweiz gilt die Konvention seit dem 1. April 2018 und dient als Wegweiser. Sie zeigt, wie man Gewalt gegen Frauen und andere betroffene Personen wirksam bekämpft. Ihr Ziel ist es, geschlechtsspezifische Gewalt zu stoppen, Gerechtigkeit zu fördern und Gleichstellung zu erreichen.
Entscheidend ist: Alle Menschen müssen berücksichtigt werden – unabhängig von ihren Lebenssituationen und Bedürfnissen. Nur so lässt sich strukturelle Gewalt beenden. Und nur so kann echte Gleichstellung entstehen.
Zwar bieten einige Fachstellen und Organisationen wie insieme Schweiz, Anthrosocial, Valida, ESPAS oder Alter ohne Gewalt barrierearme Beratung und Prävention für Gewaltbetroffene an. Diese sind aber meist nicht flächendeckend, selten auf akute Gewalt ausgerichtet und bieten keine Schutzunterkünfte. Von den Frauenhäusern wiederum sind derzeit nur das Frauenhaus Chur und das Frauenhaus St. Gallen rollstuhlgängig und ermöglichen Betroffenen mit Bewegungseinschränkungen einen Aufenthalt. Blertë Berisha betont jedoch: «Trotz diesen Umständen gehen die Frauenhäuser so gut wie möglich auf die individuellen Bedürfnisse der Klientinnen ein und machen damit bereits vieles möglich». Doch wegen der knappen Ressourcen stossen sie an Grenzen – und Barrierefreiheit bleibt die Ausnahme, statt die Norm.
Hinter dieser strukturellen Ausgrenzung steckt mehr als fehlende Barrierefreiheit. Sie zeigt, wessen Sicherheit als selbstverständlich gilt – und wessen nicht. «Wer über Gewaltschutz spricht, muss daher auch über Inklusion sprechen», betont Blertë Berisha. Denn die fehlende gesellschaftliche Inklusion und Gewaltbetroffenheit wirken als Teufelskreis. Auch Namila Altorfer sagt: «Besonders Frauen mit Behinderungen bleiben im Alltag meist unsichtbar und geraten bei Hilfsangeboten aus dem Blick.» Dies mache es umso schwieriger, der Gewalt zu entfliehen. «Ein wirksamer Schutz besteht erst dann, wenn Barrierefreiheit, Selbstbestimmung und die Sichtbarkeit von Frauen mit Behinderungen nicht länger als Zusatz, sondern als Grundvoraussetzung gelten», schliesst Altorfer. Und dieser beginnt nicht erst bei barrierefreien Frauenhäusern, sondern bereits viel früher – mit der Sensibilisierung von Mitarbeitenden in Institutionen, nationalen Leitlinien oder mit der (Sexual-)Aufklärung von Betroffenen.
Mehrfachgefährdung von Frauen mit Behinderungen
Frauen mit Behinderungen erleben zwei- bis dreimal häufiger häusliche und sexualisierte Gewalt als Frauen ohne Behinderungen. Trotzdem bleiben ihre Erfahrungen in Statistiken und öffentlichen Debatten in der Schweiz weitgehend unsichtbar oder lückenhaft.
Eine Untersuchung der Hochschule Luzern im Auftrag des Bundes (2023) zeigt, dass Beratungs- und Schutzangebote für gewaltbetroffene Menschen mit Behinderungen oft schwer zugänglich sind. Auch die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (2024) stellt fest, dass es in der Schweiz kaum spezifische Schutzplätze für Frauen mit Behinderungen gibt und viele Einrichtungen ein hohes Mass an Selbstständigkeit voraussetzen – was viele Menschen ausschliesst.
Zudem stehen viele Betroffene in machtasymmetrischen Abhängigkeitsverhältnissen zu Partnern oder Betreuungspersonen: Weil sie auf Unterstützung im Alltag angewiesen sind, in Institutionen leben oder in geschützten Arbeitsumfeldern arbeiten. Diese Abhängigkeiten erhöhen das Risiko für Machtmissbrauch erheblich –beispielsweise wegen mangelnder Selbstbestimmung, Privatsphäre oder der sozialen Isolation durch Familie oder Fachpersonal.
Zwischen Anonymität und Transparenz
«Barrierefrei zu sein heisst auch, Betroffenen offen zu kommunizieren, was möglich ist und was noch nicht », heisst es aus der DAO. Oft werde jedoch auch bewusst nicht proaktiv kommuniziert, welches Frauenhaus nun wie und ob überhaupt barrierefrei oder barrierearm ist – aus Sicherheitsgründen. Viele Häuser können ihre Standards nicht öffentlich machen, weil sonst ihr Standort auffindbar wäre. Dieser bleibt aus Sicherheitsgründen anonym.
Um die Sicherheit zu wahren, arbeiten Frauenhäuser bewusst mit einzelnen Fachleuten und Betroffenen zusammen, die Expertise in Inklusion und sozialer Arbeit haben. So lassen sich Verbesserungen gezielt umsetzen, ohne dass sicherheitsrelevante Informationen zu Bau oder Standort nach aussen gelangen. Verbindliche kantonale oder nationale Standards mit entsprechender Finanzierung könnten es ermöglichen, offener über Barrierefreiheit zu kommunizieren. Denn wenn diese flächendeckend umgesetzt würde – und nicht nur die Frauenhäuser in Chur und St.Gallen rollstuhlgängig wären – liessen sich keine Rückschlüsse mehr auf den Standort einzelner Häuser ziehen.
Artikel 18-28 der Istanbul-Konvention
Alle Menschen, die Gewalt erlebt haben, sollen Schutz und Hilfe bekommen – und zwar ohne weitere Diskriminierung. Das heisst: Schutz- und Hilfsangebote müssen für alle zugänglich sein, ob mit Rollstuhl oder in verschiedenen Sprachen.
Aber Zugänglichkeit ist mehr: Menschen sollen sich willkommen und sicher fühlen. Mitarbeitende müssen verstehen, dass viele Menschen von mehrfacher Diskriminierung betroffen sind – etwa wegen ihres Geschlechtes, Behinderungen, Herkunft oder sexueller Orientierung. Deshalb müssen Bund und Kantone genug Geld bereitstellen, um genügend Schutzorte wie Frauenhäuser zu schaffen und klare Regeln aufzustellen, damit diese Orte wirklich für alle zugänglich sind. Nur mit konsequenter Barrierefreiheit und Mehrsprachigkeit lassen sich die Anforderungen von Artikel 19 der Istanbul-Konvention erfüllen.
Noch ist unklar, wie Bund und Kantone langfristig und institutionalisiert bei Barrierefreiheit und Behinderungen zusammenarbeiten werden. «Aktuell hängt Inklusion im Gewaltschutz zu stark vom Engagement einzelner Personen ab», heisst es aus der DAO. «Es braucht klare politische Verantwortung und nachhaltige Finanzierung». Dafür sind ein nationaler Überblick, verbindliche Standards und eine Koordinationsstelle nötig, die Inklusion im Gewaltschutz dauerhaft fördert und finanziert. Ebenso wichtig ist gut ausgebildetes Personal, das auf die individuellen Bedürfnisse der Betroffenen eingeht, ohne dabei ständig überlastet zu sein.
Barrierefreiheit bedeutet, Gewaltprävention umfassend zu denken: baulich, kommunikativ und gesellschaftlich. Denn nur dort, wo alle Frauen tatsächlich Zugang zu Schutz, Beratung und Selbstbestimmung haben, kann von inklusivem Gewaltschutz die Rede sein. Die Frage ist daher nicht, ob wir uns Barrierefreiheit leisten können. Sondern ob wir es uns leisten wollen, sie weiterhin zu verweigern.

