
Es fängt immer harmlos an: Einfach ganz kurz nachgucken, was es sein könnte. Mich rasch vergewissern, dass der Arzt falsch lag. Oder herausfinden, wie vielen Menschen unter diesem Medikament bereits ein drittes Auge gewachsen ist oder wessen Hoden seit Therapiebeginn über zwei Kilo wiegen. Ich könnte einfach tief durchatmen, einen Tee trinken und abwarten. Später einen Termin beim Arzt vereinbaren und mein Anliegen klären. Aber nein, ich liebe Selbstmanagement, bin geradezu süchtig danach. Laptop auf, und schwupps sitze ich in der Welt der künstlichen Intelligenz und der kuriosesten Diagnosen. Natürlich mit Links, die zu Bildern führen. Solche, die man nicht so schnell vergisst. Danach bin ich oft maximal verwirrt und starte meine andere Strategie: das Verleugnen. Auch wenn mir ein Dartpfeil im Kopf stecken würde oder ich mit 23 Eiterbeulen herumlaufen müsste, würde ich mich daran festhalten, dass der Geruch der Beulen bereits weniger faulig riecht oder der Pfeil in ein paar Wochen von selbst abfallen wird.
Du fragst dich jetzt bestimmt, warum ich es dann überhaupt tue. Den wahren Grund würdest du aber niemals erraten, denn er ist so doof, dass ich die Schockmomente dank Dr. Google redlich verdient habe (Dr. AI ist übrigens etwas feinfühliger).
Ich will nämlich bloss auf keinen Fall in einem stickigen Wartezimmer rumgammeln müssen. Denn dort wartet meine persönliche Hölle: die meisten Patient:innen husten einem ins Gesicht, bohren in der Nase, führen extrem laute Calls mit der BFF und schicken ihre antibiotikaresistenten Viren auf Wanderschaft, damit sie sich innerhalb der Todeszone (meistens auf einer «Schweizer Illustrierten» oder der «Glückspost») paaren können. Wenn ich mich bis anhin noch nicht extrem krank gefühlt habe, dann spätestens jetzt. Tippe ich hingegen auf «Eiterbeule und Dartpfeil», erhalte ich innerhalb von 0,37 Sekunden 3‘487‘624 Antworten. Und mindestens 3‘487‘000 davon sind weniger traumatisierend als ein überfülltes Wartezimmer.
Ich schwelge dann jeweils so lange in meinem Vermeidungsverhalten, bis ich zwischen «Ach, das ist bestimmt nichts» und «Oh Gott, ich sterbe nächste Woche» eine Pizza bestelle und Netflix einschalte.
Das Schlimme ist: AI kennt mich inzwischen besser als meine beste Freundin. Sie weiss, welche Fragen ich mitten in der Nacht stelle, wenn meine Schmerzen mich wachhalten. Sie kennt meine Verzweiflung, meine Hoffnungen, meine Angst. Und manchmal schenkt sie mir auch echte Hilfe: Studien, Selbsthilfegruppen, Erfahrungsberichte, die mir das Gefühl geben, nicht allein zu sein. Aber sie unterstützt mich leider auch darin, Arzttermine herauszuschieben, was ich vor nicht allzu langer Zeit einmal bitter bereut habe. Es endete nämlich damit, dass sich mein Lieblingskleid unterhalb der Taille rot färbte und ich schlussendlich im Notfall landete, wo mich der Assistenzarzt fragte, was man jetzt tun solle. Das Kleid war nach zwei Waschgängen erstaunlicherweise wieder beige, ich aber benötigte einige Wochen zusätzlich, um mich davon zu erholen.
Arzttermine rausschieben ist ein bisschen wie Wäscheberge ignorieren: Man weiss, sie verschwinden nicht von selbst. Im Gegenteil, sie wachsen heimlich weiter. Nur dass man beim Stolpern über die Wäsche höchstens ein blaues Schienbein hat, während bei der eigenen Gesundheit plötzlich das ganze System «Error» schreit.
Wir alle kennen die Ausreden: «Das ist bestimmt nur Stress.» Dabei vergessen wir, dass Gesundheit kein Amazon-Paket ist, das man irgendwann mal «nachliefert«, wenn’s gerade besser passt. Unser Körper ist gnadenlos ehrlich, hört irgendwann damit auf, höflich anzuklopfen – und tritt die Tür ein.
Und ja, Arzttermine sind manchmal verdammt nervig. Der Geruch nach Desinfektionsmittel löst in mir definitiv keine sexy Gefühle aus und die «Glückspost» erst recht nicht - unabhängig davon, ob Federer oder Meghan das Cover zieren. Aber dieser Moment der Unbequemlichkeit ist tausendmal besser, als irgendwann mit einem riesigen Drama dazusitzen, das man möglicherweise hätte verhindern können.
Denn die Wahrheit ist: Wer zu lange wegschaut, gibt dem eigenen Körper die Botschaft, dass er nicht wichtig ist. Und das ist die vielleicht gefährlichste Krankheit. Also: Geh hin, bevor aus einem leisen Flüstern ein brüllender Trump wird. Dein zukünftiges Ich wird dir danken. Mit Sicherheit.
Und halten wir bitte noch kurz fest: Dr. AI und Dr. Google sind keine Ärzte. Sie sind in der Welt der Krankheiten eine beliebte Alternative, um sich der Realität nicht gänzlich stellen zu müssen. Denn egal welche Antwort dies smarten Dinger liefern, Fakt ist: Wir brauchen Medikamente, eine Physiotherapie oder ein Röntgenbild. Grund genug, sich in die Hölle zu begeben.
Und an dieser Stelle noch eine kleine Bitte an die Ärzteschaft: Statt die MPA einen weiteren Tag im Hamsterrad rumrennen zu lassen, drückt ihr doch einfach mal die Kreditkarte in die Hand. Auftrag: Richtet das Wartezimmer so ein, dass es für Patient:innen erträglich ist. Mit Stühlen, auf denen man nicht nach fünf Minuten Bandscheibenvorfälle simuliert, Zeitschriften, die jünger sind als der Chefarzt selbst, und einem Fernseher, der nicht Tierdokus in Endlosschleife zeigt. Ganz egal, ob der Oberarzt findet, sein Geschmack sei über jeden Zweifel erhaben, wir sitzen dort, nicht er. Und die MPA soll sich beim Shopping-Trip ruhig auch etwas gönnen dürfen, denn sie ist es, die uns Patient:innen den Aufenthalt erträglich macht und für ein kleines bisschen Wohlbefinden sorgt, dass das Wartezimmer schon in den 70ern eingebüsst hat.