«Menschen, die in Einrichtungen leben, sind es gewohnt, dass ihr Nein nicht viel zählt.» Strafrechtsanwält:in Ronska Grimm über die Gründe, warum so viele Fälle im Dunkelfeld bleiben.

RoB: Sexualisierte Gewalt gegenüber Frauen mit Behinderungen ist mutmasslich sehr weit verbreitet, wird aber noch seltener zur Anzeige gebracht oder gar erst thematisiert als Gewalt gegen Frauen ohne Behinderung. Was sind die Gründe hierfür?

Ronska Grimm: Vorweg: Der Begriff Menschen mit Behinderungen ist sehr breit und umfasst eine Vielzahl verschiedener Menschen. Entsprechend gelten auch unterschiedliche Hürden und Mechanismen für unterschiedliche Personen.

In meiner Arbeit erfahre ich immer wieder, dass viele Menschen mit Behinderungen oft gar nicht erst mit den nötigen Informationen zu sexueller Selbstbestimmung ausgestattet werden, um Gewalt als solche zu erkennen. Gerade Menschen mit Behinderungen, die in Einrichtungen leben, sind es oftmals gewohnt, dass ihr Nein nicht viel zählt und der Alltag überwiegend fremdbestimmt strukturiert ist.

Dadurch ist die Wahrnehmung von «Wo fängt meine Grenze an, wann kann ich Nein sagen und wann wird dieses Nein auch respektiert?» deutlich eingeschränkt. Und wenn eine Gewalterfahrung gemacht und als solche erkannt wurde, folgt in einem zweiten Schritt die Angst, dass man nicht ernst genommen wird.

Welche Rolle spielen ableistische Vorurteile dabei?

Es gibt immer wieder Hinweise in den Ermittlungsakten auf behinderungsspezifische Vorurteile und Vergewaltigungsmythen. Behinderungsspezifisches Fachwissen ist nicht Teil der Ausbildung bei Polizei und Justiz. Das ist problematisch, weil es dazu führt, dass Fehler bei der Bewertung von Sachverhalten passieren. Ich erlebe immer wieder, dass Gewalt weniger ernst genommen wird, wenn auch die beschuldigte Person ein Mensch mit Behinderungen ist. 

Frauen mit Behinderungen werden allgemein in eine besonders vulnerable Position gebracht – durch fehlende Aufklärung und durch fehlenden Schutz.

«Die Hürde, jemanden anzuzeigen, auf den man ganz elementar angewiesen ist, ist für Verletzte extrem hoch.»

Ronska Grimm, Strafrechtsanwält:in

Das Thema Sexualität und Behinderung ist in weiten Teilen der Gesellschaft bis heute stark tabuisiert. Wie macht sich das für Betroffene im Alltag bemerkbar?

Viele Menschen mit Behinderungen haben mir berichtet, dass sie überhaupt keine Sexualaufklärung bekommen haben – weder in der Schule, noch zu Hause. In den Institutionen gibt es oft zwei Extreme: Entweder wird Sexualität stigmatisiert, tabuisiert und reglementiert, so dass kein offener Umgang damit möglich ist. Oder es wird der Ansatz vertreten, wonach Menschen mit Behinderungen selbstverständlich eine selbstbestimmte Sexualität leben können sollen. Das ist zwar begrüssenswert, führt jedoch teilweise zu dem Problem, dass sexuelle Übergriffe und Machtasymmetrien unter dem Deckmantel der Selbstbestimmung von den Verantwortlichen bagatellisiert und Frauen mit Behinderungen nicht ausreichend geschützt werden.

Es braucht beides: ein funktionierendes Schutz- und Interventionskonzept innerhalb der Einrichtung und eine offene Kommunikation über selbstbestimmte Sexualität.

Sie haben Macht als Symmetrien erwähnt. Können Sie das ausführen?

Machtgefälle und Abhängigkeiten spielen eine grosse Rolle bei sexualisierter Gewalt gegenüber Frauen mit Behinderungen. Täter:innen überlegen sich genau, wie und wo sie einen Übergriff begehen können, der voraussichtlich straffrei bleibt. Die Hürde, jemanden anzuzeigen, auf den man ganz elementar angewiesen ist, ist für Verletzte extrem hoch. Es gibt zudem oft grosse Berührungsängste mit der Polizei oder Anwält:innen, sodass es am Zugang zum Hilfesystem fehlt.

«‹Einfach so› eine Anzeige aufzugeben, kommt für viele schlichtweg nicht in Frage. »

Ronska Grimm, Strafrechtsanwält:in

Porträt von einer Person mit braunen kurzen Haaren und einer Brille.

Ronska Grimm arbeitet seit 10 Jahren als selbstständige Rechtsanwält:in in Berlin. Ronska Grimm ist Anhörungsbeauftragte Person der unabhängigen Kommission des Bundes zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Als Fachanwält:in im Strafrecht hat sich Ronska Grimm auch auf die Vertretung von Menschen mit Behinderungen nach Sexualdelikten spezialisiert.

Welche strukturellen Gründe sehen Sie sonst noch für das grosse Dunkelfeld bei Anzeigen zu sexualisierter Gewalt gegen Frauen mit Behinderung?

Der Zugang zum Recht stellt für Menschen mit Behinderungen – je nach Art der Behinderung – oftmals eine riesige Hürde dar. Zum einen wohnen viele in Einrichtungen, die nicht gut an grössere Städte angebunden sind. Der Zugang zu Fachberatungsstellen und Hilfsangeboten ist dadurch stark eingeschränkt. Dann sind auch viele Fachberatungsstellen per se nicht gut auf Menschen mit Behinderung ausgerichtet.

Es ist auch bereits eine Hürde für viele Menschen mit Behinderung, von entsprechenden Angeboten zu erfahren; dass es etwa spezialisierte Anwält:innen gibt, die Möglichkeit auf unentgeltliche Rechtsberatung oder Kostenübernahme. Einfach zum Hörer zu greifen und die Polizei zu verständigen, ist für Menschen, die es gewohnt sind, dass sie bei vielen Entscheidungen erst jemanden fragen müssen, eine grosse Hemmschwelle. «Einfach so» eine Anzeige aufzugeben, kommt für viele schlichtweg nicht in Frage. Es kommt hier aber, wie gesagt, sehr auf die Art der Behinderungen an. Man kann es nicht verallgemeinern.

Was müsste auf Ebene der Polizei beachtet werden, damit der Weg zum Recht für Frauen mit Behinderung, die geschlechtsspezifische Gewalt erfahren haben und eine Anzeige machen möchten, einfacher wird?

Es bräuchte eine standardisierte und verpflichtende Wissensvermittlung zu behinderungsspezifischem Bedarf von Zeug:innen und Beschuldigten im Strafverfahren. Zum Beispiel: Wie vernehme ich eine Person mit Lernschwierigkeiten in einem Setting, in dem sie eine möglichst gute Aussage tätigen kann? In manchen Fällen sollte die Einvernehmung in einfacher Sprache durchgeführt werden, mit ausreichenden Pausen. Und es ist wichtig, dass Menschen, die nicht mobil sind, in ihrer vertrauten Umgebung einvernommen werden.

Allgemein gilt: Zuerst muss Vertrauen aufgebaut werden, bevor manche Menschen überhaupt anfangen zu erzählen.

«Gerade bei Menschen mit Lernschwierigkeiten spielen Gestik und Mimik eine wichtige Rolle bei der späteren Bewertung der Aussage, ein schriftliches Protokoll ist hier unzureichend.»

Ronska Grimm, Strafrechtsanwält:in

Was kann die Polizei dafür tun?

Die Polizei sollte in jedem Fall über den Ablauf und den genauen Zeitrahmen informieren, die Rollen erklären und auch bei der Belehrung darauf achten, dass die Aufklärung über die Wahrheitspflicht nicht als implizites Signal dafür gedeutet wird, dass die Beamt:innen einen prinzipiell ohnehin der Lüge beschuldigen. Es ist auch zentral, dass eine solche Einvernahme für eine mögliche spätere Begutachtung durch Sachverständige aufgezeichnet wird. Gerade bei Menschen mit Lernschwierigkeiten spielen Gestik und Mimik eine wichtige Rolle bei der späteren Bewertung der Aussage, ein schriftliches Protokoll ist hier unzureichend.

Bei Menschen, die beispielsweise eine Seh- oder Hörbehinderung haben, sind die behinderungsspezifischen Bedarfe wiederum völlig andere. Es ist wäre wichtig, dass Polizei und Justiz entsprechend geschult sind, um Diskriminierungen zu vermeiden. Leider ist das bisher noch weitestgehend Wunschdenken.