Collage: ein Mann (Foto, schwarzweiss) mit einer dunklen Sonnenbrille und einem Blindenstock sitzt vor einem grafischen, grünkarierten Hintergrund. Oben rechts lautet die Überschrift: Sommerserie Nummer 6

Woher kommt der Ausdruck?

Die Bezeichnung «blind» wird in unserer Sprache oft mehrdeutig verwendet. Auf einer medizinisch-juristischen Ebene gilt in der Schweiz als blind, wer auf dem besseren Auge 5 Prozent (Visus 0,05) oder weniger sieht. Als sehbehindert gilt, wessen Sehfähigkeit 30 Prozent (Visus 0,3) oder weniger ist.

Der Begriff findet sich auch in der Psychologie – er bezeichnet jene Anteile unseres Selbst, die wir aus psychologischen Gründen nicht wahrnehmen können oder nicht wahrnehmen wollen.

Zudem wird das Wort auch in den Fachgebieten der Geschichte, der Gesellschaftsforschung und der Politik verwendet. Für Aspekte, Ereignisse oder Gruppen von Menschen, die noch zu wenig gesehen oder bewusst ignoriert werden.

«In der Schweizer Medienlandschaft begegnen mir Redewendungen wie ‹blind entscheiden›, ‹blinde Wut› oder ‹blind für die Realität sein›.»

Jonas Pauchard, angehender Jurist

Wir haben nachgefragt

Jonas Pauchard studiert Recht im Master an der Uni Bern und ist blind. Er stört sich daran, dass das Wort «blind» häufig im übertragenen Sinn verwendet wird.  Er sagt: «In der Schweizer Medienlandschaft begegnen mir Redewendungen wie «blind entscheiden», «blinde Wut» oder «blind für die Realität sein». Das mag nicht erstaunen, denn der Duden nennt unter den Bedeutungen von «blind» auch «ohne kritisch-selbstständiges Nachdenken, kritiklos, ohne Überlegung». Als blinde Person betrifft mich diese Wortwahl direkt, weil sie Blindheit mit Ignoranz oder Unachtsamkeit gleichsetzt. Doch Blindheit bedeutet lediglich, nichts zu sehen. Wer etwas ignoriert oder übergeht, tut dies in der Regel nicht ausschliesslich über den Sehsinn. Solche Formulierungen sind nicht nur unpassend, sondern auch verletzend. Sie sind Ausdruck einer ableistischen Sprache, die Menschen mit Behinderungen abwertet und ausgrenzt.»

«Als blinde Person betrifft mich diese Wortwahl direkt, weil sie Blindheit mit Ignoranz oder Unachtsamkeit gleichsetzt. Doch Blindheit bedeutet lediglich, nichts zu sehen. Wer etwas ignoriert oder übergeht, tut dies in der Regel nicht ausschliesslich über den Sehsinn.»

Jonas Pauchard, angehender Jurist

Welche sprachlichen Alternativen gibt es?

Der Schweizerische Blinden- und Sehbehindertenverband sbv hat keine offizielle Meinung zu diesem Sprachgebrauch. Martin Abele vom sbv schildert jedoch seinen persönlichen Eindruck: «Es ist sehr unterschiedlich, wie betroffene Menschen diese Redewendungen empfinden.» Viele Menschen mit Sehbehinderung integrierten sie in ihren Sprachgebrauch und würden sich zum Beispiel im ÖV humorvoll als «blinde Passagiere» bezeichnen.

Auf der englischen Diskussionsplattform «Reddit» gibt es eine Community, die sich über sensible Sprache bei Behinderung austauscht.  Dort schlägt ein User vor, das Wort blind durch «nicht bewusst» zu ersetzen. Auch «nicht sehend«, «nicht wissend», «unbekannt» oder «ignorieren» können je nach gewünschter Aussage treffende Alternativen sein. 

«Solche Formulierungen sind nicht nur unpassend, sondern auch verletzend. Sie sind Ausdruck einer ableistischen Sprache, die Menschen mit Behinderungen abwertet und ausgrenzt.»

Jonas Pauchard, angehender Jurist

Fachleute der Gender and Disability Studies regen dazu an, Metaphern, die einen Zusammenhang mit Körper- und Sinnesnormen haben, mit grosser Sorgfalt einzusetzen. Nicht selten transportieren diese nämlich sprachliche Bilder mit einer engen Vorstellung dessen, was normal und gut ist, und was falsch und nicht funktioniert. Behinderung werde so unbewusst in einen Kontext von «nicht wünschenswert» gesetzt.