Ein Mann umfasst mit seinen Fingern das Handgelenk einer Frau.

Abhängigkeit schafft Machtstrukturen, die Gewalt ermöglichen. Symbolbild: Freepik

«Wie ich in die Einrichtung gekommen bin, da haben sie alle gewitzelt: ‹des ist ein Puff für Invalide›. […] Und ich weiß, ein Pfleger ist oft einmal bei wem aus dem Zimmer gekommen, wo ich mir gedacht hab – waren ja viele Frauen mit geistiger Behinderung dort auch –, die haben ja gar keinen pflegerischen Bedarf. Was hat er denn da drin getan? […]. Wenn sie glauben, du bist wehrlos, dass sie sich dann einfach irgendwie alles trauen können und der Meinung sind, dass ihnen eh nichts passiert. Dass sie mit dir tun können, was sie wollen.» (Schachner et al., 2014)

Lange Zeit sprach kaum jemand darüber, dass Mädchen und Frauen mit Behinderung Gewalt oder gar sexualisierte Gewalt erleben. Dieses Thema galt als Tabu. Es wurde verdrängt, übergangen und nicht ernst genommen. Während Gewalt gegen Frauen ohne Behinderung nach und nach sichtbar wurde, blieben Frauen mit Behinderung weiterhin unsichtbar. Ihre Erfahrungen wurden selten erfragt und noch seltener gehört.

Das feministische Kollektiv Olten (femko) hat aus Berichten, Biografien und Studien die Stimmen von betroffenen Personen herausgesucht und in Kontext gestellt. Es sind zentrale Quellen, um Macht, Geschlecht und Körper in der Geschichte der Schweizer Sozialpolitik und Psychiatrie zu verstehen. RoB stellt einen Auszug daraus vor.

«Natürlich ist mir klar geworden, dass man als Frau mit Behinderung nirgendwo Thema ist. Frauenemanzipation hat's ja gegeben, aber als Frau mit Behinderung bist du nicht vorgekommen.» (Schachner et al., 2014)

Diese Worte zeigen, wie tief die Unsichtbarkeit reicht, selbst in feministischen Bewegungen.

«Ich wusste nicht, was tun. Ich war ganz alleine damit.» (Hoffinger, 2022)

Eine Frau beschreibt hier nicht nur Gewalt, sondern das Gefühl völliger Verlassenheit, wenn weder Schutz noch Unterstützung erreichbar sind.

«Ich erfuhr, dass es nicht der erste Übergriff des Pflegers war.» (Winter, 2022.)

Ein Satz, der zeigt, wie gefährlich Strukturen werden können, wenn Abhängigkeit auf Macht trifft.

«Wenn ich als blinde Person einen Lift nicht benutzen kann, weil es keine tastbaren Beschriftungen gibt, ist das eigentlich eine Form von struktureller Gewalt.» (Blindenverband Wien, Niederösterreich und Burgenland).

Mit diesen Zitaten wird klar: Gewalt ist nicht nur ein einzelner Übergriff. Sie steckt in Barrieren, die Menschen ausschliessen, kontrollieren oder abhängig machen.

Berichte von Ausgrenzung und Missachtung

Ein Beispiel dafür, wie diese Erfahrungen von Gewalt heute aufgearbeitet werden könnten, ist das Forschungsprojekt «Zwischen Anerkennung und Missachtung»: Zwischen 2018 und 2023 führte die Hochschule für Heilpädagogik (HfH) Zürich über sechzig Interviews mit ehemaligen Schülerinnen und Schülern sonderpädagogischer Institutionen. Eine Besonderheit des Projekts war, dass Menschen mit Behinderungen, die selbst in Institutionen zur Schule gingen, als Co-Forscher:innen in den gesamten Forschungsprozess eingebunden waren.

Schulische Unterforderung prägten viele Biografien von Kindern mit Behinderung. Symbolbild: Freepik

So unterschiedlich die Biografien der interviewten Personen sind: Was sie eint, ist der Wunsch nach einer schulischen Integration, wie dieses Zitat verdeutlicht:

«Dann eben was ich eigentlich empfand, war, muss ich sagen, von meinen Eltern, die dachten einfach guten Glaubens, das sei das Beste für mich und intervenierten da nicht. Und darum bin ich heute der Meinung, dass es eben wirklich wichtig ist, gewisse Versuche zu machen. Wenn es irgendwie geht, soll man versuchen in die normale Schule zu gehen, in die Regelklassen.»

Die Befragten berichten von einer grossen schulischen Unterforderung und von Institutionen, die sie ausgebremst haben. Was blieb, war die Erfahrung der Ausgrenzung und Missachtung.

Abhängigkeit begünstigt Gewalt

Zwar gab es über die letzten Jahrzehnte einen Wandel: In den 1950er-Jahren dominierte ein Paradigma der Fremdbestimmung und Missachtung den Umgang mit Menschen mit Behinderungen in der Schweiz. Ab den 1970er- und 1980er-Jahren setzten erste Tendenzen zur Mitbestimmung, Individualisierung und integrativen Pädagogik ein. Dennoch blieb die strukturelle Verletzlichkeit bestehen – besonders für Mädchen und Frauen in Abhängigkeitsverhältnissen.

Im Betreuungskontext berichten die Befragten von Schlägen, Demütigungen, Schweigen und Angst. Von fehlender Kommunikation über Sinn und Zweck therapeutischer Massnahmen, von Schmerzen, Demütigung und emotionaler Vernachlässigung. Auch sexualisierte Übergriffe und psychische Gewalt waren Teil des institutionellen Alltags. Aber auch von ersten Momenten der Anerkennung – von Menschen, die zuhörten und glaubten.

Das Forschungsprojekt zeigt, dass Geschichten von Betroffenen keine Einzelfälle sind. Und dass Gewalt viele Formen hat: die Hand, die schlägt; die Diagnose, die stigmatisiert; das Schweigen, das vernichtet. Anerkennung beginnt dort, wo jemand hinschaut, zuhört und glaubt.

Aufarbeitung als Auftrag

Auch heute ist Gewalt gegen Frauen mit Behinderungen nicht eine Frage einzelner Übergriffe, sondern eine Folge der Strukturen. Abhängigkeiten in Pflege und Wohnen, ungleiche Machtverhältnisse und fehlende Alternativen machen viele Frauen besonders verletzlich. Für manche ist der eigene Wohnort nicht nur ein Zuhause, sondern ein Ort, an dem Macht missbraucht werden kann.

Echte Aufarbeitung bedeutet, diesen Stimmen Raum zu geben – nicht, um Mitleid zu erzeugen, sondern um Verantwortung zu übernehmen. Die Geschichten von Betroffenen bleiben Mahnung und Auftrag zugleich.